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Aufstand gegen die Eliten (1/3)

Arabellion, Occupy-Bewegung, Aufstände in Spanien und Lateinamerika: 2011 war ein Jahr der Massenproteste. Was ist erreicht worden, was noch zu leisten? Was folgt, Resignation oder Radikalisierung? Zum Auftakt einer dreiteiligen Gesprächsserie unterhält sich Peter B. Schumann mit dem Sozialhistoriker Gabriel Salazar über die angespannte Situation in Chile.

Mit Peter B. Schumann | 19.02.2012
    Peter B. Schumann: Chile galt lange Zeit als eines der wirtschaftlich erfolgreichsten und politisch stabilsten Länder Lateinamerikas. Doch 2011 brachen die latenten Konflikte auf. Oberschüler und Studenten protestierten monatelang gegen das mit hohen Gebühren belastete, profitorientierte und oft marode Bildungswesen. Es war 1981 von der Militärdiktatur geschaffen worden und ist Teil des sogenannten "chilenischen Modells", der radikalsten Form des Neoliberalismus in Lateinamerika. Ich möchte Sie zunächst fragen, Herr Professor Salzar, wie hat diese Politik das Erziehungssystem verändert?

    Gabriel Salazar: Das Bildungswesen geriet nach dem Militärputsch zunehmend unter die Kontrolle von Wirtschaftsgruppen, die ihr Kapital meist nicht durch Produktion, sondern durch Spekulation erworben haben. Das bedeutete eine nie dagewesene Kommerzialisierung des gesamten Schul- und Hochschulwesens. Wer die Leistungen des Bildungssystems in Anspruch nehmen will, muss seither dafür bezahlen. Bis 1973 war Erziehung eine öffentliche Angelegenheit und kostenlos. Die Unternehmer entdeckten sie im Zuge der Privatisierungspolitik als Geldquelle und investierten vermehrt in den Aufbau privater Schulen und Universitäten. Er hat gerade in den letzten Jahren ein extremes Ausmaß angenommen.

    Schumann: Nun hat es aber auch schon vor ein paar Jahren Proteste gegeben. Damals regierte die sehr populäre Präsidentin Michelle Bachelet. Dennoch hat sich in ihrer Regierungszeit 2006 die Rebellion der Pinguine ereignet: Die Oberschüler rebellierten gegen heruntergekommene Klassenräume, unbefriedigenden Unterricht und hohe Schulgebühren.

    Salazar: Sie waren aber nicht in der Lage, weiterreichende Vorschläge zu machen. Sie haben zwar gestreikt und viele Schulen besetzt. Doch dann ließen sie sich von Präsidentin Bachelet mit Versprechungen abspeisen, die nie erfüllt wurden. Diese Generation der Pinguine ist nun heute an den Hochschulen. Sie hat in der Zwischenzeit gelernt, dass die alte Parteienkoalition der Concertación und das neoliberale Modell abgewirtschaftet haben. Deshalb richten sich ihre Proteste jetzt gezielt gegen die Kommerzialisierung und den Reibach im chilenischen Bildungswesen und damit gegen das herrschende Wirtschaftssystem.

    Schumann: Das erklärt die große Akzeptanz der Protestbewegung in der Bevölkerung. Bis zu 80 Prozent der Chilenen halten ihren Kampf für gerechtfertigt. Steht er in Zusammenhang mit anderen sozialen Protesten wie z. B. der Umweltschützer, der Arbeiter, der Fischer oder der indigenen Bevölkerung der Mapuche? Ist der studentische Kampf Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Empörung?

    Salazar: Das neoliberale Modell der Diktatur hat die Concertación einfach fortgesetzt und zwar ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen. Die gewissenlose Politik der Unternehmer hat z.B. die Arbeiterklasse völlig zerrüttet: Fast alle besonders kostenintensiven Teile der Betriebe wurden in Subunternehmen ausgelagert, in Mikrofirmen, die nur schlecht bezahlte Zeitverträge anbieten. Deshalb hat sich in diesem Bereich viel sozialer Sprengstoff angesammelt. An der Küste rebellieren die Fischer. Sie haben viele ihrer Fanggründe verloren, weil internationale Unternehmen in großem Stil in chilenischen Gewässern fischen und den Fang auch gleich verarbeiten dürfen. Die Lehrer streiken immer wieder, weil auch sie teilweise sehr schlecht bezahlt werden und nur Zeitverträge erhalten.

    Schumann: Warum rebellieren denn die Mapuche, die Ureinwohner Chiles im Süden des Landes?

    Salazar: Die Jugend der Mapuche hat die Tradition ihres Volkes aufgegriffen und sich auch auf die eigene Sprache besonnen. Sie hat sich außerdem den langen Kampf um die Anerkennung als autonomes Volk und um das ihnen geraubte Land zu eigen gemacht. Sie respektiert die alten Führer, aber sie steht heute an der Spitze des Kampfs. Deshalb gibt es jetzt eine Mobilisierung der Mapuche wie in den letzten hundert Jahren nicht.

    Schumann: Das sind aber alles Probleme, die nicht erst in den zwei Jahren der Regierung Piñera entstanden sind. Sie haben zum Teil historische Ursachen wie die Unterdrückung der Mapuche. Und das Bildungswesen wurde bereits vor drei Jahrzehnten umgekrempelt. Auch gab es in den 20 Jahren der Concertación, der Regierungskoalition aus Christdemokraten und Sozialisten, immer wieder vereinzelte Proteste, allerdings nie eine Bewegung auf so breiter Basis wie heute. Fällt es den Chilenen leichter, gegen eine rechtskonservative Regierung zu kämpfen?

    Salazar: Das ist sicher leichter, aber es kommt noch etwas Wichtiges hinzu. Das chilenische Volk, die Mittel- und Unterschicht, die Linke hat sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass sich die Sozialisten von gestern in Neoliberale verwandelt haben, und dass auch die Christdemokraten der 60er-Jahre zu Neoliberalen geworden sind. Und dass die Radikalen Demokraten der 40er und 50er nichts anderes sind. Sich diesen Verrat bewusst zu machen, hat lange gedauert. Die Jugendlichen haben daraus schon früher ihre Schlussfolgerungen gezogen und haben sich bei den letzten Präsidentschaftswahlen erst gar nicht ins Wahlregister einschreiben lassen. Mehr als drei Millionen Jugendliche haben die Stimmabgabe ignoriert.

    Schumann: Das Misstrauen in die politische Klasse ist ja ein weltweites Phänomen. In Chile hat es nun dazu geführt, dass diese Jugendlichen gegen das Establishment rebellieren. Sie haben dafür im letzten Jahr sieben Monate lang auf der Straße demonstriert, haben gestreikt, haben Schulen und Universitäten besetzt. Sie haben die Dinge in die eigenen Hände genommen. Gibt es dafür Vorbilder in Chile?

    Salazar: Ende der 60er-Jahre begann sich eine wirkliche Volksbewegung zu entwickeln: poder popular, Volksmacht, genannt. Sie basiert auf der Idee, die Probleme selbst zu lösen, beispielsweise das Obdachlosenproblem: Man besetzt gemeinsam ein Stück ungenutztes Land und baut Hütten darauf. Während der Diktatur verschärften sich die Probleme, weil Pinochet diesen Teil der Bevölkerung völlig sich selbst überließ. Also hat die Volksmacht sich des Problems des Hungers angenommen und Volksküchen eingerichtet. Sie hat Komitees für Menschenrechte geschaffen, für Gesundheit und durch kleine Schulen für Volksbildung gesorgt und so weiter.

    Schumann: Existierte diese poder popular auch nach der Rückkehr zur Demokratie, in den Jahren der Concertación?

    Salazar: In der Zeit des Übergangs zur Demokratie von 1987 bis 1993 nahm die Bedeutung dieser Bewegung etwas ab, denn sie vertraute auf die Concertación. Sie spielte dann wieder in der Asienkrise von 1997 eine wachsende Rolle. Damals gingen die ausländischen Investitionen zurück, die Arbeitslosigkeit stieg immens, und es wurde erneut klar, dass das neoliberale Modell gescheitert war. Dadurch entwickelte sich diese Bürgerbewegung mit ihren starken Strukturen der Selbstorganisation und der Selbsthilfe weiter, denn sie erlebte hautnah, dass die Concertación den Betroffenen nicht half. An der Spitze dieser Bewegung standen die Jugendlichen und die Frauen in den Armenvierteln. Entscheidungen wurden in Versammlungen getroffen, es herrschte Selbstverwaltung. Sie haben gelernt, Entscheidungen gemeinsam auf Versammlungen zu treffen. Daran haben alle teilgenommen.

    Schumann: Diese Form von Basisdemokratie praktizierten ja auch die Oberschüler 2006 bei ihrer Rebellion der Pinguine, und sie ist auch das Grundprinzip der Studentenbewegung. Was ist eigentlich ihr theoretisches Fundament?

    Salazar: Eine ganze Reihe von – ich würde sagen – befreundeten Disziplinen hat daran mitgewirkt: die Sozialpsychologie, die Untersuchungen der Sozialarbeiter an den Universitäten und die Soziologen, die das lokale Umfeld analysieren, die Sozialgeschichte, die ich betreibe, die Praktiken der Basiserziehung. All dies hat die Bewegung angereichert mit historischen, theoretischen, wissenschaftlichen Elementen sowie mit demokratischen Elementen. Aber sie beschränkte sich nicht auf die Universität, sondern ging auf die Straße. Die Bewegung, die in den "Pinguinen" 2006 ihren unmittelbaren Ursprung hat, konnte 2011 durch dieses ganze Paket von Hilfsquellen auf einem höheren Niveau agieren.

    Schumann: Und sie konnte auch einen hohen Grad an Autonomie entwickeln. Wie weit reicht die Autonomie der Protestbewegung?

    Salazar: Sie hat sich selbst erfunden, ist selbstverwaltet, selbstbestimmt. Ihre politische Kultur basiert nicht auf Mythen. Wenn sie sich auf Bücher bezieht, dann auf die der erwähnten "befreundeten" Wissenschaften. Gramsci, Lenin, Mao Tse Tung interessieren sie nur am Rand. Die eigene Kultur und das historische Gedächtnis, das sie angespeichert haben, bilden die Quelle ihrer Selbstgewissheit, eine eigene Wahrheit. Sie müssen die Revolutionstheorien nicht importieren.

    Schumann: In dieser langen Tradition des sozialen Kampfes, die Sie geschildert haben, Herr Salazar - darin scheint mir der wesentliche Unterschied zu liegen zwischen der Protestbewegung in Chile und denen anderen Lateinamerikas, aber vor allem auch zu den eher spontan entstandenen Bewegungen wie Occupy Wall Street oder auch den spanischen Indignados. An was für Ausdrucksformen lässt dieser Unterschied sich festmachen?

    Salazar: Er zeigt sich besonders auffallend an den Äußerungen der Oberschüler oder der Hochschüler. Da kommt ein hoher Grad an Bewusstsein zum Ausdruck, ganz egal aus welcher Region des Landes die jungen Leute stammen. Was sie sagen, beruht auf eigenen Erfahrungen. Sie müssen keine ausländischen Autoren bemühen oder die Losungen importierter Theorien wiedergeben. Auch ist ihr Niveau höher als das der meisten Kommentatoren in den Massenmedien. Es ist wirklich bemerkenswert.

    Schumann: Aus welchen Schichten stammen die studentischen Führer oder besser gesagt die Sprecher, wie sie sich nennen, denn Führer gibt es bei ihnen natürlich nicht?

    Salazar: Aus allen Schichten. Aus der Oberschicht wie Giorgio Jackson beispielsweise. Die bekannte Camila Vallejo kommt aus der Mittelschicht, einige Vertreter kommen auch aus dem Volk. Gerade die staatliche Universidad de Chile hat sehr viele Studenten aus den ärmeren Schichten aufgenommen. Für sie und ihre Eltern bedeutet es eine große Herausforderung, denn die auch hier fälligen Studiengebühren zwingen sie, sich zu verschulden oder nebenbei zu arbeiten, oder sie müssen Angehörige um Unterstützung bitten. So verschulden sich ganze Familien für lange Zeit.

    Schumann: Und viele kommen aus dieser Schuldenfalle nie mehr raus. Deshalb heißt die Hauptforderung der Protestbewegung: kostenlose Bildung. Sie gab es bis zur Militärdiktatur, und sie existiert in fast allen Ländern Lateinamerikas. In Chile kostet jedoch ein Studium außerdem fast so viel wie in den USA. Was konnten die Schüler und Studenten bisher erreichen?

    Salazar: Der Bildungsetat wurde um etwas mehr als vier Milliarden Dollar aufgestockt. Das ist immer noch sehr wenig, denn er war einer der geringsten in Lateinamerika. Die Zahl der Stipendien wurde erhöht, und die Zinsen für staatliche Kredite wurden gesenkt. Das ist eine rein wirtschaftliche Lösung: Es wird lediglich die Investition in die Bildung erhöht. Damit gab sich der Studenten-Verband jedoch nicht zufrieden, denn so wird das Grundproblem nicht beseitigt. Es geht nicht um Geld, sondern um Qualität.

    Schumann: Das Ergebnis entspricht aber dem Begriff von Bildung, den Präsident Piñera am Anfang seiner Regierungszeit definiert hat. Danach ist Bildung eine "Investitions Komponente zur Verbesserung der Exportchancen und der Produktivität", so wörtlich.

    Salazar: Die Regierung versteht darunter ein System, das höchste Qualifikation nach internationalem Standard erzeugt. Exzellenz ist das einzige Kriterium. Wer ihr nicht gerecht wird, bleibt auf der Strecke. Der Regierung geht es nicht um Inhalte, um die Entfaltung von Bildung, sondern um die Erfordernisse des Marktes, um einfach messbare Werte. Denn die Studenten sollen auf den internationalen Wettbewerb ausgerichtet werden. Die Frage ist: Wollen wir ein auf das Ausland orientiertes Modell imitieren, oder soll Bildung dazu befähigen, unsere eigenen Probleme zu lösen?

    Schumann: Die Regierung Piñera war bei den Etatberatungen Ende des letzten Jahres nur bereit, über Zahlen, über Geld zu diskutieren, nicht jedoch über Grundsatzfragen. Ist die Protestbewegung überhaupt in der Lage, ihr Ziel einer kostenlosen Bildung zu erreichen?

    Salazar: Die Sozialgeschichte hat festgestellt, dass die politischen Parteien in den letzten 200 Jahren unserer Geschichte kein einziges Mal bereit waren, die Verfassung nach den Wünschen der Mehrheit des Volkes zu reformieren, abgesehen von zwei Ausnahmen. Während der Regierung von Eduardo Frei Montalva wurde Ende der 60er-Jahre der Zugang zu den öffentlichen Bildungseinrichtungen erleichtert. Und Allende hat den Kupferbergbau verstaatlicht. Unter Pinochet wurde das alle zurückgenommen, und danach hat es keine Partei mehr gegeben, die das Modell in seinen Grundzügen hätte modifizieren wollen.

    Schumann: Und der Unternehmer-Präsident Piñera dürfte dazu noch weniger bereit sein, denn es war die politische Rechte, die das gegenwärtige merkantilistische Modell implantiert hat.

    Salazar: Wenn sie mit dem Merkantilismus Schluss machen wollten, müssten sie sich ja selbst aufgeben. Die Jugendlichen – das zeigt unsere Geschichte – haben keinerlei Vertrauen in die Politiker und in die Parteien. Sie misstrauen ihnen nicht nur, sie lehnen sie völlig ab. Eine Ausnahme ist die Kommunistische Partei: sie wird von einer Reihe von Studenten akzeptiert, denn sie lässt eine Linie erkennen, die man als links bezeichnen könnte, obwohl sie es nicht wirklich ist, und sie verfügt über einen Organisationsapparat. Außerdem haben die Studenten bei ihrem Gespräch mit Piñera erlebt, dass so etwas zu nichts führt, genauso wie die Diskussionen mit dessen erstem Erziehungsminister und mit seinem Nachfolger. Die jungen Leute haben sogar mit dem Parlament gesprochen und kehrten unbefriedigt um. Sie haben erkennen müssen, dass es auf diesem Weg keine Lösung geben wird.

    Schumann: Aber wieso kann ihnen nun die Kommunistische Partei dabei weiterhelfen?

    Salazar: Die Kommunistische Partei ist in den sozialen Bewegungen verankert. Auch sucht sie ständig ihren Einfluss zu verstärken, um in den Parlamenten Fuß zu fassen und die Massen anzuführen. Das ist ihr Ziel. Ihr geht es nicht wirklich um die Stärkung der Protestbewegung. Sie nutzt deren Stärke vielmehr für ihre parteipolitischen Ziele. Was anderes haben die chilenischen Kommunisten nie gemacht. Von dieser Seite ist also auch keine Lösung zu erwarten. Die Bewegung verfügt jedoch über genügend eigene Kraft, Autonomie und Kultur. Und deshalb wird sie sich auf keinen Kompromiss mit dem Regime einlassen.

    Schumann: Das haben auch die Studentenratswahlen im Dezember gezeigt. Die bekannte Camila Vallejo, Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde als Vorsitzende abgewählt. In verschiedenen Vertretungen haben sich radikale, kompromisslose Positionen durchgesetzt. Die Protestbewegung braucht aber Bündnispartner, um den Druck zu erhöhen. Wo sind diese zu finden, Herr Salazar?

    Salazar: Allein wird sie nichts erreichen. Unterstützung kann sie bei der Arbeiterklasse finden, aber nur bei der vereinigten, denn sie ist – wie ich schon gesagt habe – völlig zersplittert. Die Gewerkschaftszentrale CUT ist zwar der Dachverband, er hat jedoch kaum noch eine soziale Basis. Seine Führungsspitze rotiert im eigenen Saft, wählt sich immer nur selbst. Auch die Lehrer-Gewerkschaft, die von der Kommunistischen Partei dirigiert wird, reproduziert sich immer nur selbst. Und die Lehrer sind ganz ähnlich demoralisiert wie die Arbeiter. Sie müssen in einer Allianz der gesellschaftlichen Akteure zusammengeführt werden. Und die müssen die Studenten schaffen.

    Schumann: Das sind jedoch eher schwache Mitstreiter, die allerdings an vielen Demonstrationen teilgenommen haben. Gibt es denn keine wirklich starke Basisorganisation, z.B. die pobladores, die Bewohner der Armenviertel, die Sie erwähnt haben?

    Salazar: Sie sind der einzige Akteur, der die nötige Autonomie besitzt und über eine stabile Basis verfügt. Sie haben sich auch schon für eine verfassungsgebende Versammlung ausgesprochen, damit die von der Diktatur geschaffene Verfassung endlich beseitigt werden kann. Unter deren Auswirkungen leidet ihr gesamtes Leben: die Erziehung, die Gesundheit, das Wohnungsproblem und so weiter. Sie könnten die Basis für die fundamentale Allianz der sozialen Akteure bilden. Nur in der Einheit lässt sich Stärke zeigen. Gerade bei den pobladores und den Basisorganisationen der Zivilgesellschaft ist sehr viel in Bewegung geraten, vor allem auf Gemeindeebene und zwar vom Norden bis zum Süden Chiles. Aber noch sind sie nicht in der Protestbewegung integriert.

    Schumann: Können Sie an einem Beispiel die Stärke solch kommunaler Selbstverwaltung verdeutlichen, vielleicht an der Region Magallanes im äußersten Süden Chiles.

    Salazar: Dort hat sich die Bürgerschaft zusammengeschlossen und eine Generalversammlung einberufen. Diese hat entschieden, die Behörden außer Kraft zu setzen und die Region selbst zu regieren. Damit wollten sie ihren sozialen Forderungen Nachdruck verleihen. Sie haben gut drei Wochen durchgehalten und in der Zeit mit der Zentralregierung verhandelt. Nachdem sie vieles erreicht hatten, haben sie den Bürgermeister und die Verwaltung wieder eingesetzt. Ein solches Bewusstsein habe ich in vielen Gemeindeversammlungen im ganzen Land feststellen können, auch in Santiago.

    Schumann: Diese Art Selbstbestimmung praktizieren ja auch die Schüler und Studenten. Sie entscheidet auf Versammlungen in einzelnen Schulen oder Fakultäten, ob sie streiken oder die Einrichtungen besetzen wollen. Gab es solche Mitbestimmungsforen auch schon früher?

    Salazar: Es hat nie eine Bürgerbeteiligung gegeben. Es gab lediglich das Recht der Petition, aber keine festgeschriebene Beteiligung auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene. Deshalb wird die Bewegung, die eine neue Kultur der Mitbestimmung ausgeprägt hat, künftig die Bürgerbeteiligung einfordern.

    Schumann: Der Aufstand der Schüler und Studenten hat in den letzten Monaten das chilenische Establishment in Atem gehalten. Den Jugendlichen ist es gelungen, ihr ureigenes Problem – die Bildung – zum nationalen Thema zu machen. Sie haben erfahren, dass sie Macht besitzen. Was bedeutet das für sie?

    Salazar: Sie haben sich dabei selbst entdeckt und ihre Fähigkeit, etwas bewirken zu können in der Gesellschaft und nicht auf den Staat warten zu müssen. Das hat sie bestärkt und mit Hoffnung erfüllt. Kürzlich hatten sich mich in eine Oberschule eingeladen, die sie besetzt hatten, zu einer dieser Diskussionen, die sie anstelle des Unterrichts veranstalteten. Und ich habe ihnen erläutert, dass früher der Staat den Markt und die Gesellschaft beherrschte, seit 1982 dirigiert jedoch der Markt Staat und Gesellschaft. Da fragten sie mich: Und was kommt nach unserer Bewegung? Ich antwortete: Die einzige Möglichkeit, die in Zukunft bleibt, ist die Zivilgesellschaft, die Staat und Markt bestimmt. Riesiger Applaus, dabei war das doch nur eine Idee, aber sie entsprach ihren Wünschen.

    Schumann: Das alles veranlasst mich zu der Frage: Herr Salazar, ist diese Schüler- und Studentenbewegung eine historische Zäsur?

    Salazar: Das hängt von der Perspektive ab. Sehen wir die Geschichte aus der Sicht der sozialen Akteure, dann befinden wir uns in einem langen Prozess, der bis zur Unidad Popular, bis zu Salvador Allende zurückreicht und der erst jetzt so richtig ins Scheinwerferlicht gerät. Für das System bedeutet es jedoch eine Zäsur. Allende hatte bereits Probleme mit der Volksmacht und der Erfüllung ihrer Forderungen. Pinochet war völlig überrascht, als er ab 1983 insgesamt 22 nationale Protestmärsche in vier Jahren erleben musste. Auch die Rebellion der Pinguine war eine solche Zäsur und eine Überraschung für die politische Klasse. Sie empfand sie als Bedrohung. Wer jedoch diese Entwicklungen von unten betrachtet, der sieht nur lange, weitgehend unsichtbare, kulturelle Prozesse.

    Schumann: Die dann von Zeit zu Zeit explodieren und von meist jugendlichen Protagonisten wie den Oberschülern im Jahr 2006 oder jetzt den Studenten ausgehen. Inzwischen beschränken die Demonstranten ihre Forderungen nicht mehr auf die Abschaffung des Kommerzes im Bildungswesen. Sie stellen sogar die Systemfrage: die Beseitigung des neoliberalen Modells. Reagiert deshalb die Regierung mit dem exzessiven Einsatz ihrer Repressionsmaschinerie?

    Salazar: Auch dies lässt sich aus der Geschichte unseres Landes ableiten. Die drei Systeme, die wir im Laufe unserer 200-jährigen Geschichte geschaffen haben, diese drei Verfassungen waren das Ergebnis von Staatsstreichen, von militärischen Interventionen, des Betrugs von Politikern und der brutalen Unterdrückung vor allem des Volks. Dabei wurde jeweils ein System errichtet, das die Mehrheit nicht wollte. Die Bevölkerung wehrte sich, im 19. Jahrhundert mit Waffengewalt, heute mit Steinen. Die Politiker – auf der Rechten wie auf der Linken – verteidigten ihre Pfründe gegen den Angriff der Bürger. Zunächst mit Hilfe von Gesetzen zur inneren Sicherheit des Staates, heute heißen sie Anti-Terror-Gesetze und richteten sich bisher vor allem gegen den Kampf der Mapuche. Außerdem wurde ein Unterdrückungsapparat aufgebaut, der sich längst in eine Art Armee verwandelt hat: die Carabineros. Sie wurden 1927 gegründet, weil die Polizei nicht mehr mit den Bürgerprotesten fertig wurde. Und ihr Repressionspotenzial wurde systematisch verstärkt.

    Schumann: Erklärt das auch die Brutalität, mit der die Spezialeinheiten der Carabineros am Schluss von jeder friedlich verlaufenden Demonstration gegen die Teilnehmer vorgehen?

    Salazar: In der Politik Chiles steht über allem das Recht, das heißt die Souveränität. Jeder Angriff der Bürgerschaft gilt bei den Politikern als etwas Pathologisches, das beseitigt werden muss. Dazu setzen sie diesen militarisierten Polizeiapparat und schlimmstenfalls auch die Armee ein. Jede Form von Bürgerprotest betrachten sie als Angriff von Anarchisten, Subversiven, Ultralinken. Sie haben – zusammen mit den von ihnen beherrschten Medien – ein ganzes Arsenal von pejorativen Begriffen geschaffen, mit denen sie den sozialen Protest diffamieren und die Repression vor sich selbst rechtfertigen.

    Schumann: Kürzlich haben Pinochetanhänger eine Hommage für einen zu lebenslanger Haft verurteilten Folterer und Massenmörder der Diktatur veranstaltet. Ein Bürgermeister hatte sie genehmigt und fand dies auch später noch richtig. Ist die Repression auch vor dem Hintergrund der Rechtswende in Chile zu sehen?

    Salazar: Heute regieren uns Schüler Pinochets, die früher auf Pinochet geschworen und die Prinzipien des Staatsstreichs verteidigt haben. Jetzt sind sie Minister. Wir werden von Bewunderern des Diktators regiert. Deshalb hat es mich überhaupt nicht überrascht, dass kein Geringerer als ein Bürgermeister diese Hommage gebilligt hat. Es sind die gleichen Leute, die heute gegen eine friedliche Studentenbewegung eine Kriegsmaschinerie in Gang setzen. Diese politische Klasse reagiert nicht mit Vernunft auf die Herausforderung der Bürger, sie wird nervös, handelt irrational. Früher haben die Jugendlichen auf die repressive Gewalt mit revolutionärer Gewalt geantwortet.

    Schumann: Fassen wir zusammen: Der chilenischen Protestbewegung ist es in einem halben Jahr massiver Demonstrationen gelungen, das marode Bildungswesen zu einer landesweiten Debatte zu machen. Unter diesem Druck hat sich die Regierung immerhin bewegt und erste, allerdings nur finanzielle Reparaturmaßnahmen getroffen. Doch die chilenische Jugend fordert mehr. Wie wird es weitergehen, Herr Prof. Salazar?

    Salazar: Die Bewegung hat jetzt eine andere Richtung eingeschlagen: weg von der Negation, von dem, was ihr nicht gefällt – die Kommerzialisierung des Bildungswesens, seine Profitorientierung – hin zu einem umfassenderen Projekt: einem ganzen Paket neuer Gesetze oder noch besser einer neuen Verfassung. Die Bürgerbewegung ist da schon etwas weiter. Auf ihren Generalversammlungen fordert sie bereits eine Verfassungsreform, die alles umfasst: die Probleme der Bildung, des Gesundheitswesens, der Autonomie und so weiter. Die Studentenbewegung hat begonnen, ihr Projekt zu konkretisieren. Dabei wird sie von der Zivilgesellschaft auf breiter Basis unterstützt.