Dienstag, 16. April 2024

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Auftakt des Love-Parade-Strafprozesses
"Es ist wichtig, dass man sich wehrt"

Heute wird der Love-Parade-Strafprozess eröffnet. Gabi Müllers Sohn starb vor sieben Jahren bei der Massenpanik. Sie hofft auf eine Verurteilung der Verantwortlichen. Sollten sie freigesprochen werden, hätte sie ihren "Glauben wirklich an unseren Rechtsstaat verloren", sagte sie im Dlf.

Gabi Müller im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.12.2017
    Trauernde besuchen in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) die Gedenkveranstaltung zum Loveparade-Unglück. Die Menschen stehen reihum vor der Gedenkstätte an dem Tunnel, in welchem das Unglück am 24.07.2010 geschah.
    Trauernde besuchen in Duisburg eine Gedenkveranstaltung zum Loveparade-Unglück von 2010 (dpa / Roland Weihrauch)
    Christoph Heinemann: Vor der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf beginnt heute der Prozess gegen zehn Personen, die wegen der Love Parade in Duisburg im Jahr 2010 angeklagt wurden. Bei der Massenpanik starben damals 21 Menschen, hunderte Personen wurden verletzt. Wir haben gestern mit Gabi Müller sprechen können. Ihr Sohn Christian starb am 24. Juli 2010 in Duisburg. Sie sagte uns, was dieser Prozess für sie bedeutet.
    Gabi Müller: Ja, ganz viel, weil es wäre eine Katastrophe, wenn es gar keinen Prozess gegeben hätte, weil das wäre ja unvorstellbar. Weil ich sage immer, das ist ja keine Naturkatastrophe gewesen, die sich da ereignet hat. Da gibt es ja Verantwortliche für.
    Heinemann: Was empfinden Sie, wenn Sie genau an diese Verantwortlichen denken?
    Müller: Eigentlich Wut – eben die Wut, weil ich finde, das ist ein ganz, ganz feiges Verhalten.
    Heinemann: Was genau?
    Müller: Wenn ich doch das plane und dann auch genehmige, was eigentlich nicht genehmigungsfähig ist, dann habe ich doch Verantwortung zu übernehmen und nicht zu sagen, ich war’s nicht und ich war es nicht.
    Heinemann: Wie sind Sie bisher mit dieser Wut umgegangen?
    Müller: Gott sei Dank ist sie ja nicht immer da. Man versucht sich dann wieder zu beruhigen, weil ich denke mal, es ist Wut da und wenn dann der Hass kommt, ich denke, das frisst einen dann auf, und das möchte ich einfach nicht, weil das bin ich ja auch nicht als Mensch.
    Heinemann: Dieser Tag ist nach wie vor präsent für Sie. Wie haben Sie diesen 24. Juli 2010 erlebt?
    Voller Vorfreude losgefahren
    Müller: Eigentlich war das ein schöner Tag. Morgens ist Christian voller Freude los und was man so als Mutter sagt, passt auf euch auf, macht keinen Mist, mischt euch nirgendwo ein, wenn es kritisch wird, und dann sind sie voller Vorfreude losgefahren. Dann habe ich normal den Alltag bewältigt. Ich weiß: Ich hatte den Samstag Nudeln mit Gulasch und dann habe ich gedacht, seine Portion machst Du ihm auf einen Teller und stellst die in den Kühlschrank, und wenn er dann nachts nach Hause kommt, hat er ganz bestimmt Hunger, dann kann er das essen. Für mich war es eigentlich ein normaler Tag, weil mit so was hat man ja überhaupt nicht gerechnet. Wenn er vielleicht mit einem blauen Auge nach Hause gekommen wäre, oder weiß ich nicht, ein verstauchtes Bein oder so, das kann ja passieren. Das kann auch passieren, wenn die zum Fußball gegangen sind. Aber dass er gar nicht mehr nach Hause kommt?
    Heinemann: Wie haben Sie das erfahren?
    Müller: Wir haben es relativ früh erfahren, weil wir sind von einem Freund von Christian, der nicht mitgefahren war. Der war mit der Nachricht bei uns. Als Christians Freunde wieder telefonieren konnten, haben sie den Damian angerufen und haben dem Damian dann gesagt, was passiert ist. Dann hat Damian nur gesagt, wir dürften das nicht von fremden Leuten erfahren, und ist dann mit der Nachricht zu uns nach Hause gekommen. Das muss so gegen 18:30 Uhr gewesen sein. Aber man hat es ja nicht geglaubt. Man will es ja nicht glauben. Ich weiß: Ich selber war nicht zuhause, weil ich bei meinen Eltern war. Mein Mann, der wollte es gar nicht glauben. Der hat gesagt, da ist so viel Durcheinander, weil der hatte das im Fernsehen auch mitbekommen, und hat sich dann aber zu meinen Eltern bringen lassen. Ich war aber in der Zeit zum Einkaufen gefahren. Von der eigentlichen Katastrophe habe ich eigentlich beim Einkaufen erfahren. Aber ich habe mich dann auch beruhigt und habe gedacht, aber nicht Christian. Als ich dann nach Hause kam, war mein Mann nicht da, und dann habe ich erst versucht, Christian anzurufen. Da war dann nur die Mailbox an. Dann habe ich den Fernseher angemacht und die Bilder da gesehen. Dann habe ich den aber ganz schnell wieder ausgemacht und dann weiß ich nicht, wie lange ich dann zuhause war. Ich weiß nicht. Dann kam mein Mann und mein Bruder und die Lebensgefährtin von meinem Bruder, und da wusste ich, dass Christian nicht mehr nach Hause kommt, dass da was ganz Schlimmes passiert ist. Mein Mann, der wollte mich dann erst noch beruhigen, weil er hat mir das nicht gesagt, dass Christian tot ist, weil er hat gesagt, Christian ist verletzt. Dann habe ich gesagt, ich glaube das nicht. Ich habe gesagt, woher weißt Du das. Dann hat er mir erzählt, dass Damian bei uns war.
    Dann weiß ich noch: Dann habe ich, glaube ich, nachts um zwölf oder halb eins gedacht, jetzt rufst Du den Damian noch mal an, und dann hat Damian mir das aber bestätigt. Dann hat man gewartet, dass von offizieller Stelle was kommt, und ich glaube, die Kripo war morgens um halb fünf oder vier Uhr da. Da kam dann die Kripo mit der offiziellen Nachricht.
    "Als wenn man immer neben sich gestanden hätte"
    Heinemann: Frau Müller, wie haben Sie dann weitergelebt, als Ihre Welt untergegangen war?
    Müller: Man hat versucht, irgendwie klar zu kommen, dass man seine Strukturen, die man vorher hatte, dass man da nicht abkommt von dem Weg. Das war am Anfang, als wenn man immer neben sich gestanden hätte. Man hat einfach nur funktioniert. Ich habe auch gedacht – die Ärztin hat ja damals auch Beruhigungsmedikamente verschrieben und da habe ich gedacht, die nimmst Du nicht, weil ich habe gedacht, das ist ein Wettlaufen auch, und habe sie dann wirklich am Morgen vor Christians Beisetzung weggeworfen und habe gesagt, da musst Du halt so durch. Und wir sind auch froh, dass uns das gelungen ist mit natürlich Freunden, stabiles Umfeld, sehr verständnisvolle Menschen, Familie, und dann auch die Verantwortung, die man trotz alledem trägt für sich selber, für den Partner, Eltern, die alt sind, die auch ihr Enkelkind verloren haben. Wir haben immer gesagt: Wenn Du jetzt anfängst zu trinken, kommt Christian auch nicht zurück, und das hätte er auch nicht gewollt.
    Heinemann: Hat es Ihnen geholfen, auch mit anderen Angehörigen in Kontakt zu sein?
    Müller: Ja, später ja. Am Anfang wollte ich das erst gar nicht und ich wollte auch mit der Notfall-Seelsorge nicht. Das war ja immer mit diesen Angehörigentreffen. Nein, das wollte ich nicht. Dann bin ich aber 2011, Anfang des Jahres habe ich gedacht, fährst Du doch mal hin, kannst ja mal gucken. Dann wollte mein Mann erst mit und dann hat er gesagt, nein, ich fahre doch nicht mit. Er wollte nicht. Und dann weiß ich noch: Zu dem ersten Treffen sind dann aber die Freunde von Christian mitgefahren. Vier oder fünf waren wir damals, weil sie gesagt haben, nein, da fahren Sie nicht alleine hin, wir kommen mit. Dann haben wir uns auch kennengelernt, die Angehörigen untereinander. Klar, das hilft ja auch, weil wir haben alle dasselbe Schicksal und dann braucht man sich auch nicht erklären. Jeder weiß, wie es dem anderen geht, ohne dass man sich irgendwie erklären muss.
    "Das unterschreibst Du jetzt"
    Heinemann: Frau Müller, der Prozess beginnt jetzt. Es könnte passieren, dass die Beschuldigten gar nicht verurteilt werden. Was würde das für Sie bedeuten?
    Müller: Das wäre natürlich die nächste Katastrophe. Wenn das wirklich passieren würde, dann habe ich meinen Glauben wirklich an unseren Rechtsstaat verloren. Ich sage mir, die Beweislage ist ja nun mal da. Dass da welche fehlen, das ist mir auch klar. Aber letztendlich haben sie unterschrieben und sie wussten, was sie da unterschrieben haben. Ich kann ja nicht sagen, wenn mich einer unter Druck setzt. Es wird ja keiner mit einer Pistole hinter denen gestanden haben und gesagt haben, das unterschreibst Du jetzt. Und dann sage ich, sie haben auch Zeit genug gehabt. Sie hätten doch was sagen können. Sie hätten doch Aussagen machen können, von wem der Druck kam. Das sind natürlich Sachen. Wenn das passieren würde, dann weiß ich nicht. Dann habe ich gar keinen Glauben mehr an unseren Rechtsstaat und unser Rechtssystem. Viel habe ich sowieso nicht, aber ich habe ihn noch nicht ganz verloren.
    Heinemann: Was raten Sie Menschen, die so etwas Grausames erleben müssen?
    Müller: Ich glaube, raten kann man da gar nichts. Ich wünsche ihnen, dass sie diese Kraft haben. Und was ich auch ganz, ganz wichtig finde: Am Anfang geht das alles nicht. Aber wenn eine Zeit vergangen ist, dass man sich wehrt. Das finde ich ganz, ganz wichtig. Wir haben uns ja auch fünf Jahre nicht gewehrt, oder nicht viel. Wir sind nicht in die Medien gegangen, weil man immer gedacht hat, es wird schon, es wird schon. Aber ich finde das schon wichtig, dass man sich auch wehrt und auch redet, wenn man die Möglichkeit hat.
    "Deshalb kämpft man"
    Heinemann: Heilt die Zeit Wunden?
    Müller: Nein. Man lernt, damit umzugehen. Es verändert sich. Aber es ist nichts mehr, wie es vorher war, und es wird auch nie wieder so werden. Aber man lernt, damit umzugehen, und wenn man das nicht kann, dann würde man daran zerbrechen. Ich denke, das hätte sich unser Sohn nicht gewünscht, und deshalb kämpft man ja auch.
    Heinemann: Auch, indem Sie zum Prozess gehen?
    Müller: Ja, ja, ja. Das ist wichtig, denke ich mal. Ich sage auch: Egal wie das jetzt ausgehen wird, das muss ich dann akzeptieren, weil dann kann ich nichts mehr ändern. Dann kann ich nichts mehr tun. Aber ich kann mir wenigstens sagen, man hat wenigstens alles versucht, was in meiner Macht jetzt gestanden hat, und vielleicht, dass man dann zur Ruhe kommt oder Frieden findet.
    Heinemann: Frau Müller, ein ganz großes Dankeschön für das Gespräch und Ihnen alles Gute.
    Müller: Ja, danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.