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Aufzeichnungen aus dem Land der versammelten Desaster

Der Kolumbianer Fernando Vallejo wurde in Deutschland vor allem durch seinen 2001 auf Deutsch erschienenen Roman "Die Madonna der Mörder" bekannt. Der Regisseur Barbet Schroeder verfilmte das Buch, das in die Lebenswelt eines homosexuellen, jugendlichen Auftragskillers der Drogenmafia im Medellín der beginnenden Neunzigerjahre eintaucht. Vallejo, 1942 in Medellín geboren, schrieb selbst das Drehbuch. Zwar lebt Fernando Vallejo bereits seit 37 Jahren in Mexiko und hat aus Protest gegen die Politik des derzeitigen kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe im vergangenen Jahr die mexikanische Staatsbürgerschaft angenommen, doch in seinem Schaffen als Regisseur, Drehbuchautor und Schriftsteller konzentriert er sich fast ausschließlich auf seine kolumbianische Heimat. Der Suhrkamp Verlag hat nun unter dem Titel "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín" den ersten Teil der Autobiografie von Fernando Vallejo vorgelegt.

Von Eva Karnofsky | 04.09.2008
    Warum, so mag man sich fragen, die Kindheitserinnerungen eines Kolumbianers lesen, von dem gerade einmal zwei Romane ins Deutsche übersetzt worden sind, die nicht einmal Bestseller waren? Die Antwort ist einfach: Fernando Vallejo, der in seiner kolumbianischen Heimat zu den bedeutenden Schriftstellern zählt, hat mit "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín" aufgrund seiner finessenreichen Sprache, die nichts dem Zufall überlässt, und seines intelligenten Umgangs mit einer Vielzahl von Mitteln literarischen Ausdrucks ein Bravourstück vorgelegt. Bereits 1985 im spanischen Original erschienen, hat das Buch seinen Anteil an Vallejos gutem Ruf als Autor.

    Vallejo verwendet klassische Stilmittel einer Autobiografie. Er geht chronologisch vor, beginnend mit seinem dritten Lebensjahr, und er schreibt in der Ich-Form. Mal wendet er sich an seine dänische Dogge namens Hexe, mal ist der Leser sein Ansprechpartner, wobei er zwischen dem vertraulichen Du und dem förmlichen Sie pendelt.

    "In Kolumbien, für den Fall, dass Sie es besuchen, gibt es Diebe mehr als genug. Bei so vielen Gesetzen und so vielen Arbeitslosen! Man fährt in einem Bus, und ein Taschendieb stiehlt einem das Geld; man steigt aus, und ein Radfahrer entreißt einem den Hut. Wenn ein Auto Sie überfährt, dann stürzt sich eine Menschenmenge auf Sie, um zu sehen, ob man Sie erleichtern kann. Am Ende fährt man Sie allerdings in einem Krankenwagen in die Sicherheit einer Klinik."

    Vallejos Kindheits- und Jugenderlebnisse und die Begegnungen mit seinem weitverzweigten Familienclan werden einem höheren Ziel als nur dem untergeordnet, seine persönliche Vergangenheit aufzuarbeiten: Der Schriftsteller benutzt sie vielmehr, um die kolumbianische Gesellschaft der Vierziger- und Fünfzigerjahre wiedererstehen zu lassen und seiner Hassliebe Ausdruck zu verleihen für "das Land der versammelten Desaster", wie er seine Heimat nennt.

    Die Jahrzehnte alte Feindschaft zwischen Liberalen und Konservativen hat er als eines der historischen Grundübel Kolumbiens ausgemacht. Vallejo schüttet Kübel von Spott und Ironie über den Politikastern beider Seiten aus.

    "In Caracolí hatte Mami eine Cousine, Emma, liberal, mit zwanzig Kindern. Zwanzig Liberale mehr! Wie schrecklich!"

    Die politische Spaltung des Landes mündete 1948, Vallejo war damals sechs Jahre alt, in einen fast zehnjährigen Bürgerkrieg, der 300.000 Opfer forderte. Vallejo verliert sich allerdings nicht in solchen Zahlen und Fakten. Er braucht nur wenige Zeilen, um das ganze Elend dieses Krieges auf den Punkt zu bringen:

    "Die Feuerkugel sprang von der einen Seite des Berges zur anderen, von einem Ufer des Flusses zur anderen. Da die Regierung konservativ war, knüppelte die Polizei die Liberalen. Doch für die einen wie für die anderen bedeutete eine nächtliche Fahrt auf der Straße den Tod. Wenn den Reisenden in einer Kurve nicht der konservative Tod erwartete, sein Parteifreund, dann erwartete ihn in der nächsten sein Feind, der liberale Tod. ... Papi fuhr inmitten des Brandes von Dorf zu Dorf und machte Wahlkampf für den nächsten konservativen Präsidenten."

    Papi, Vallejos Vater, gehörte zur Führungsriege der Konservativen Partei.

    Vallejo ist nichts heilig, nicht das Land und seine Traditionen und Konventionen, nicht der Glaube und nicht die Kirche, nicht seine Familie, nicht er selbst. Und entsprechend wählt er seine Sprache: Sie ist schonungslos, direkt, nicht immer salonfähig, oft beleidigend, aber immer präzise, sodass man sich gelegentlich an das nordamerikanische enfant terrible Charles Bukowski erinnert fühlt. Die kürzlich verstorbene Elke Wehr hat die Übersetzung hervorragend gemeistert.

    Es existiert kaum etwas in der kolumbianischen Gesellschaft, womit Vallejo nicht haderte. Ein Glück für den Leser, denn Zorn und Wut verleiten ihn zu den ungewöhnlichsten und respektlosesten Assoziationen und Vergleichen: Da ist der Messwein so süß wie ein Diabetikerkoma und beim Abendmahl öffnen sich die Münder wie Hosenschlitze in einem riesigen Urinal. Die Liebe, weil unerfüllt, wird zu einer Wespe mit tückischem Gift.
    Der katholischen Kirche begegnet er mit unverhohlenem Hass. Ihr, genauer: den Salesianern, hatten seine Eltern die Erziehung ihrer Söhne überlassen. Über die Mönche schreibt er:

    "Ein verhaltener Samenkoller verlieh diesen Nazihenkern den falschen Anschein von Gesundheit im Gesicht, das immer kurz vorm Explodieren stand, und ließ ihre Seele und ihren Atem faulig werden. Sechs Jahre Konzentrationslager also, aber ich habe überlebt."

    Die Verletzungen, die dem jungen Fernando auf der Klosterschule zugefügt worden sind, müssen tief gewesen sein.

    Nicht nur die Kirche, der Glaube allgemein ist ihm suspekt, und er schlägt vor, Priester und Heilige auf dem Scheiterhaufen des gesunden Menschenverstandes und der heilen Vernunft zu verbrennen.

    Doch "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín" ist nicht nur Abrechnung, sondern über weite Strecken auch ein heiteres, amüsantes Buch, etwa immer dann, wenn der Autor sich Ausflüge in den magischen Realismus erlaubt und damit diesen, aber auch den Wunderglauben der Menschen in Medellín karikiert. Seine Tante Lucía zum Beispiel füllte mit Hilfe des Heiligen Nikolaus von Tolentino ihre Speisekammer.

    Fernando Vallejo ist ein scharfer Beobachter, und es gelingt ihm, das Stadtbild Medellíns zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts sowie die damals noch ländlich geprägte Gesellschaft der heutigen Metropole prägnant nachzuzeichnen. Und das Buch liefert so manche Erklärung, wie es dazu kommen konnte, dass es der Kokainmafia ab Ende der Siebzigerjahre gelang, Medellín in einen Hort der Gewalt zu verwandeln.

    "Blaue Tage. Eine Kindheit in Medellín" gehört zu den scharfsinnigen Büchern, die man nur ungern aus der Hand legt. Bleibt zu wünschen, dass sich auch für die Übersetzung der übrigen vier Teile der autobiografischen Aufzeichnungen Fernando Vallejos bald ein deutscher Verlag findet.