Freitag, 29. März 2024

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Aus Anlaß seines 70sten Geburtstags am 20. Oktober

Das ist ein ungewöhnlicher Schriftsteller, der auf die Frage, für wen er schreibt, nicht sagt: für den Leser. Oder - ichstolz; auch das kennt man ja zur Genüge! - für mich selbst! Oskar Pastiors Antwort lautet anders: "Für den Hörer. Die Waagschale neigt dem Akustischen, der Stimme zu. Das Buch ist im Grunde ein schöner Luxus, den ich mir oder die Verlage sich leisten."

Gerhard Mahlberg | 01.01.1980
    Tatsächlich wagt Oskar Pastior zu behaupten, daß sich das Wesentliche an seinen Texten dann ereignet, wenn er sie selber vorträgt. Wer ihm je zugehört hat, muß ihm beipflichten. Darum überrascht es auch nicht, daß Oskar Pastiors jüngster Veröffentlichung zum Buch, seinem vorderen Einband aufgesteckt, eine Compact Disc beigegeben ist. "Gimpelschneise in die Winterreise - Texte von Wilhelm Müller" lautet der ziemlich merkwürdige Titel des sowohl dem Ohr als auch dem Auge sich darbietenden Werks. Urs Engeler, Editor aus Weil am Rhein und Basel, hat es herausgebracht. In zwiefacher Gestalt - weil auch er aus dem Erlebnis von Lesungen des Autors (es sind immer Performances, auch wenn er sich gar nicht vom Stuhl erhebt!) den Schluß gezogen hat, daß gerade Oskar Pastiors Gedichte "einen Tonträger denkbar und wünschbar gemacht" haben: sie sind für Urs Engeler "nahe am Ohr", ja, sogar, "aus dem Ohr heraus (...) entstanden". Folglich nicht nur für den Buchstabenleser da. Bei der Erschließung des Sinns dieser Texte sollen sich die Sinne - das Auge, das Ohr - ergänzen.

    Schon Franz Schuberts künstlerische Phantasie hat sich an den Wortvorlagen des 1794 geborenen Wilhelm Müller, genannt Griechen-Müller, entzündet. Hat Schubert ihnen Melodien unterlegt, die mittlerweile jeder kennt, wenn nicht bisweilen trällert, erlaubt sich der poetische Transformator Oskar Pastior, Müllers "Winterreiseliedern ‘neue Texte’ zu verpassen". Doch während der Musiker Schubert den Dichter Müller fast in Vergessenheit gestürzt hat, ruft ihn der nachgeborene Poetenkollege Pastior uns wieder ins Gedächtnis - gerade indem er die Worte des frühverstorbenen Spätromantikers durch eigene ersetzt! Zwischen dem damaligen und dem heutigen Empfinden liegt eine Kluft. Jedoch Oskar Pastiors "Gimpelschneise in die Winterreise" ist keine Persiflage, sondern eine Hommage. Wer will, der mag, so Pastior, vergleichen! Also höre man sich an, was vom natur- und liebessinnigen "Winterreise"-"Frühlingstraum"-Gedicht Wilhelm Müllers in der Adaption von Oskar Pastior übrigbleibt:

    gaumendünung

    ei ei ihr von stühler pulpe daktylische pocken auf sylts kaleidoskopalen mulden hellastischer illustration

    hund hals die buhnen wauten da war`s im gänsemarsch daß knöchelfrei und ginster wir zogen uns daumen im watt

    doch an die d-zug-türen wer knallte den schichtenbau? der benn-eidetisch vergorne der asteroiden sah?

    ich maulte phonem und amen von einem andenkaff von billy und mandscharo von propusk und rachenschaft

    hund hals zyklamen wuten da war`s vom ziegenstall daß hign-noon ich synapsen- de daumen uns schnappen sah

    nach dünen hier o glyphen nach knappen weichen dort indes brennt an o mir schwante wonach der meerschaum pfiff

    Es ist nicht der Sinngehalt der Zeilen, an den sich Oskar Pastior klammert. Er bekennt selbst, daß Wilhelm Müllers "Frühlingstraum" aus dem Süden "Ich träumte von bunten Blumen" (bei ihm) "(...) plötzlich einen Satz nach Norden ans Meer" macht. Aber Oskar Pastior wahrt die Bauform des Gedichts - die Stropheneinteilung und das Metrum, nicht selten sogar die verwendeten Vokale; er läßt, mindestens so oft, wie er sie kappt, die Assonanzen schwingen. Denn Oskar Pastior orientiert sich, erprobt und beweist sich am Klang der Worte - dieser regt ihn zum poetischem Experiment an.

    So ist es Oskar Pastior nicht nur mit Wilhelm Müller ergangen, sondern zuvor schon - in einer größeren Zeitentiefe und über eine nationale Sprachgrenze hinweg - mit Francesco Petrarca. Mit dessen Frührenaissance-Poesie hat sich der 1927 in Hermannstadt in Siebenbürgen geborene Klangdichter gleichfalls bewundernd-respektlos befaßt. So sind zunächst Oskar Pastiors "33 Gedichte" nach Petrarca entstanden und dann seine "sonetburger". Damit schaffte der 1968 in die Bundesrepublik übersiedelte, seitdem in Berlin lebende Autor hierzulande Anfang der Achtziger Jahre den Durchbruch. Wenn auch nicht bei einem Massenpublikum; aber das wäre bei einem Schriftsteller wie Oskar Pastior wohl zuviel verlangt. Er macht keine Konzessionen bei seinen Sprachexperimenten, - wie auch der im Hanser Verlag herausgekommene Gedichtband "Das Hören des Genitivs" bezeugt. Schon dessen Überschrift sperrt sich eindeutigem Verstehen. Wird hier der Genitiv gehört? Oder aber hört - unvermutet - der Genitiv selbst? Das bleibt unentscheidbar. Denn hier kommt man mit den Mitteln der Logik von Subjekt und Objekt nicht weit - sie reicht an das Dichten von Oskar Pastior nicht heran. Welchen Begriff macht er sich als Autor vom Sinn? Welche Aufgabe sieht er für sich durch ihn gestellt? Geht es für Oskar Pastior darum, den Sinn zu finden, zu verschieben, zu zerstören - oder zu erfinden? Nichts davon scheint zuzutreffen; Oskar Pastior zufolge ist alles viel einfacher und unbestimmbarer zugleich: "Der Sinn erfindet sich ja selber - in jedem Hörer anders. Je nach seiner Sprachbiographie, Sprachenbiographie, Lebensbiographie, was das nun auch sei, Lektürebiographie und auch im Kontext dessen, was unmittelbar vorher oder nachher sogar passiert. Wenn in der Nacht irgendwo was passiert, in der großen Welt, liest man es am Morgen nachher anders."

    Für Oskar Pastior geht das Gedicht, das er schreibt, weder in einem Sinn auf noch gar in seinem, dem des Autors. Was soviel heißt, als daß es des Lesers, besser noch: des Hörers bedarf, um sich vielfach und mehrdeutig zu entfalten. Es kann gar nicht ohne Hörer oder Leser sein. Oskar Pastiors poetologische Konklusion lautet darum: "So konstituiert der Sinn sich sehr abhängig von dem, der ihn konstituiert." Bedächtig spricht Oskar Pastior sie aus - er weiß um seine Ko-Produzenten, die er weder kennt noch kontrolliert. Seine Texte sind Sinnversuchungen. Sie bieten -nebst "kleine(n) "Orgien" des Wohlklangs, auch solche "der Polysemie und syntaktischen Polyvalenz", sagt Pastior. Sie laden ins Offene. - Die 1983 im Berliner Rainer Verlag erschienenen "sonetburger" waren nicht der einzige Typus von Gedichten, den es vor Oskar Pastiors Auftreten in der poetischen Landschaft der Bundesrepublik nicht gegeben hat. Da sind als neuausgerufene literarische Gattungen auch noch: die Gedichtgedichte, Hörichte, Fleischeslüste und Wechselbälger, die krimgotischen Lieder, Tinitusse und die "Vokalisen & Gimpelstifte" zu nennen. So ist insbesondere ein 1992 im Münchner Hanser Verlag erschienener Band überschrieben, an den die "Gimpelschneise in die Winterreise-Texte von Wilhelm Müller" jetzt offensichtlich anknüpft.

    Freilich ist es in ihrem Fall nicht zum ersten Mal geschehen, daß Oskar Pastior als Vorträger seiner Gedichte verlegerische Würdigung findet. Vor allem Außenseiter und Neuerer des Editionsbetriebs haben sich diesbezüglich für ihn stark gemacht, - wie der S Press Tonbandverlag, der 1977 mit einer Aufnahme von "Höricht Gedichtgedichte" den Anfang machte. Oder der Obermichelbacher Gertraud Scholz Verlag, der 1993 die CD "Mein Chlebnikow" herausgebracht hat, auf der sich Oskar Pastior als Überträger von einem weiteren geistesverwandten Poeten, dem russischen Futuristen Velimir Chlebnikow, sprachlich anstecken läßt.

    Gleichwohl sollte man darüber nicht verkennen, daß die Muttersprache für Oskar Pastior, wie für jeden sprachbewußten Schriftsteller, das teuerste Gut ist; er ist sich allerdings zugleich im klaren, daß sie niemals im Reinzustand von der Zunge geht. Zu ihr gehört immer ein Hintergrundrauschen. Es ist unablöslich vom Sprechakt. Auch vom dichterischen, als den Oskar Pastior seine Poesie begreift und vorstellt. Darum heißt einer seiner Gedichtbände - er ist 1986 bei Hanser erschienen und vielleicht sein bislang schönster - "Lesungen mit Tinnitus".

    Aber früher noch, als dieses Buch, ist ein anderes Gedicht entstanden, das aufs Witzigste ins Wort faßt, warum auch für den besten Dichter, wie Oskar Pastior urteilt, die Kommunikation eine Schimäre bleibt, ein Anspruch, den man notwendig vor sich her trägt, den man aber niemals einzulösen vermag. Oskar Pastior stellt sich der Herausforderung. Das Gedicht, nachlesbar in "Der krimgotische Fächer", heißt:

    Ballade vom defekten Kabel

    Adafactas Cowlbl Ed rumplnz kataraktasch-lych Uotrfawls aachabrawnkts Brambl aachr dohts ...

    Schlochtehz ihm schlochtehz ihm ehs klaren Zohn

    Ihn Uotrfawls

    Humrem hä? Do humrem Nodo humrem kaineschfawls

    Ehs ischtolt ain däfäktäs rumpltsch traktaz ä nedderschtilchz Rompl-Grompt

    Cowlbl o Cowlbl wottä Cowlbl-gotz! Gehbät uns ain adakuats Ch-bell ntmr hiechffn s-trumpltsch Bvchuelltr aasm Naawbl

    Vielleicht hat Oskar Pastior nie besser - was hier nicht heißt, nicht heißen kann: verständlicher! - als in der "Ballade vom defekten Kabel" dargelegt, warum sich sein Anspruch beim Schreiben, beim Sprechdichten nicht darauf richtet, vorgeblich reine Poesie zu erzeugen. Er setzt sich statt dessen unverdrossen, besessen und verspielt, mit der unaufhebbaren oder - wie es Oskar Pastior selbst formuliert hat: der "generellen Verschmutztheit von Sprache" auseinander. Darin steckt mehr an Willen zur poetischen Utopie als im linguistischen Reinlichkeitswahn.