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Aus dem Buch entspringt ein Fluss

Norbert Scheuer hat ein unverwechselbares Thema: die Eifel. In seinen bislang vier Romanen schilderte er die raue Vulkanlandschaft, grausame Rituale, die verschrobene Garstigkeit der Dorfbewohner. In seinem neuen Roman entdeckt Scheuer die Schönheit.

Von Klaus Englert | 12.08.2009
    Norbert Scheuer beschreibt in seinem neuen Roman "Überm Rauschen" die Eifler als ein Volk von Geschichtenerzählern. Jeder dieser merkwürdigen, verschrobenen Typen konstruiert sein Leben wie eine selbst erfundene Geschichte. Da "Überm Rauschen" allerdings nicht nur von den Personen eines fiktiven Eifeldorfs, sondern auch vom Fluss und dessen Bewohnern handelt, dürfen wir uns den literarischen Kosmos von Norbert Scheuer als unermesslich groß vorstellen. Die Personen halten nicht nur Zwiesprache mit der Urft und den Fischen. Es gibt sogar Lebewesen, die prädestinierte Geschichtenerzähler sind. Zu ihnen gehört die archaisch dreinschauende Groppe, die – wie es heißt - durch ihre Hässlichkeit und das unentwegte Wühlen im Schlamm dazu getrieben wird, "immerzu Geschichten zu erzählen". Der erzählerische Kosmos ist also bevölkert von allerlei Wesen. Scheuer gibt das gerne zu:

    "Von jedem dieser Personen, die es da gibt, kann ich Geschichten erzählen. ( ... ) Es besteht immer wieder eine Verknüpfung, und die Biografien sind irgendwie da. In dem Moment, indem ich zu schreiben beginne, erweitert sich das eigentümlicherweise. Es kommen beim Schreiben immer wieder Personen hinzu, und die werden wie bei einer großen Familie hinzugefügt. Von denen erweitert sich das tentakelartig, es wird immer größer und irgendwann wird es dann vielleicht die ganze Welt."

    Nach den Vorläuferromanen "Der Hahnenkönig", "Der Steinesammler", "Flußabwärts" und "Kall. Eifel" nun also "Überm Rauschen", Scheuers fünfte Variation über den Kosmos Eifel. Der passionierte Scheuer-Leser wird leicht das Dorf wieder erkennen, ebenso sein geheimes Gravitationszentrum, die Kneipe der Arimonds. Auch der Protagonist Leo Arimond, der gewiss einige Züge des Autors aufweist, ist wieder dabei. Aber es gibt auch Unterschiede: Etliche Figuren aus dem bekannten Eifel-Universum, wie etwa der meditierende Steinesammler Anton Braden, fehlen. Und die Handlung spielt nicht mehr – wie in "Kall. Eifel" - in den siebziger Jahren, sondern 1996, mit entsprechend in die Jahre gekommenem Personal. Neue, völlig unerwartete Figuren treten in den Vordergrund. So berichtet Norbert Scheuer immer wieder von der Urft, die – wie sollte es anders sein - auch Geschichten erzählt, nach Pflaumen und reifen Äpfeln schmeckt sowie nach schleimigen Kuhnasen riecht. Doch im Mittelpunkt steht Leos Bruder Hermann, der sich so lange mit dem Fluss und den Fischen identifizierte, bis er dem Wahnsinn verfällt. "Überm Rauschen" handelt sogar von dem ersten Eifler, der natürlich auch der erste Arimond ist, und der rauen Vulkanlandschaft Eifel:

    "Ich hatte tatsächlich, als ich den Roman schrieb ( ... ), nicht die Idee, einen reinen Familienroman zu schreiben, sondern ich wollte einen Roman über die Eifel schreiben. Also einen Roman, der anhand einer Familie die ganze Geschichte der Eifel aufdeckt."

    Zwar beschreibt der Roman die Schrullen und Malaisen der Arimond-Sippe. Er schildert den vermeintlichen Vater, der die Eifler mit seinem elektrischen Akupunkturgerät beglücken wollte; ebenso den Stiefvater, den anarchistischen Hilfsarbeiter, der tagein, tagaus über das Fischen philosophiert; dann die Mutter, die nach langen Jahren des Eheunglücks nur noch im Demenznebel herumgeistert; sowie Hermanns Frau Alma, die hin und wieder ihre unglückliche Seele irgendeinem Stammtischler hingibt; natürlich auch Leo, der einst aus der Welt der Spießer ausbrach, und schließlich – wie er eingesteht – in die unheimlich-heimelige Eifel zurückkehrte. Diese Personen sind die Fixsterne im fiktiven Eifel-Kosmos. Aber Norbert Scheuer wollte – wie gesagt - mehr als nur einen Familienroman, er wollte zurück zu den Ursprüngen dieses Kosmos:

    "Einen Roman zu schreiben, der die gesamte Geschichte einer Region von der Urzeit bis zur Jetztzeit abbildet, da muss man mit anderen Werkzeugen arbeiten. Und deswegen habe ich Ausschnitte aus der Geschichte in den Roman eingebaut. Der Roman ( ... ) hat den Charakter eines Epos. ( ... ) Irgendetwas hat er davon ( ... ). Der erste Arimond und die Entstehung der Eifel werden thematisiert, es werden sämtliche Kriege ( ... ), es werden Völkerwanderungen thematisiert, und immer ist die Familie darin."

    Man ist geneigt, "Überm Rauschen" als eine Verfallsgeschichte zu lesen. Denn am Ende, nach dem Tod des Stiefvaters, bleiben nur die zerstrittenen Geschwister, die aus dem Altenheim entlaufene Mutter und der geistig umnachtete Hermann zurück. Wie Scheuer den in Psychose versunkenen Hermann schildert – nackt auf dem Bett sitzend, mit den schillernden Kragenfedern eines Hahns auf rasiertem Schädel, mit geschminkten Lippen wie ein Fischmaul, umgeben von stinkenden Köderfliegen und Larven – gehört zu den packendsten und tiefgründigsten Romanpassagen. Geschrieben in einfacher, schnörkelloser Sprache. Man könnte meinen, damit kulminiere der familiäre Zerfall der Arimonds. Doch Norbert Scheuer ist da anderer Meinung:

    "Ich finde den Roman ganz und gar nicht pessimistisch. Es gibt zwei Ebenen, auf denen der Roman sehr positiv funktioniert, das ist einmal, denke ich mir, wie er sich mit Wirklichkeit auseinandersetzt, und zwar ästhetisiert er Wirklichkeit, das heißt er versucht aus einer miesen, prekären Situation, Schönheit zu produzieren. Und dann ist auch das Ende ( ... ) sehr versöhnlich. Die Familie ist in gewisser Weise wieder zusammengekommen. Von daher überwiegen die positiven Elemente."

    Und doch darf man nicht darüber hinwegsehen, dass der Roman von zwei Bereichen handelt, die offensichtlich nicht zu vereinbaren sind. Da wäre zunächst die soziale Welt der Arimond-Gaststätte, die ausnahmslos von Hinterhältigkeit regiert wird. Und in der Leos betrunkener Stiefvater – wie Scheuer schreibt – die Mutter "ebenso windelweich fickte, wie er sie zuvor geschlagen hatte". Aber es gibt noch eine andere Welt, beherrscht von Kleistscher Grazie – die Welt des Angelns, des Flusses, der Fische. Nur so entsteht Schönheit, zwecklos und ephemer:

    Beim Vor- und Rückschwung beschreibt die Rutenspitze, von oben betrachtet, eine Ellipse, sie beginnt zu tanzen, es scheint, als würde mit der Spitze eine Musik dirigiert, eine leise, verführerische Musik. Schnur, Köder und Rutenspitze scheinen sich getrennt zu haben, sind zu Entitäten in unterschiedlichen Welten geworden, die sich im Idealfall in einer prästabilisierten Harmonie befinden und in Wahrheit nur ein Ziel verfolgen, Schönheit und Illusion.

    In dem Roman gibt es vier Figuren, die aus der sozialen Welt ausbrechen: Der Stiefvater, für den Fischen Leben war – Grausamkeit, Schönheit und Glück. Die Holländerin, die man eines Tages in der Urft auffand, mit Neunaugen, die sich an ihren Händen angesaugt und festgebissen hatten. Hermann, der im psychotischen Wahn von sich sagte, er sei ein Teil des Flusses geworden. Und – wer weiß – vielleicht auch Leo Arimond, der anfangs das Fischen verabscheute, später es aber seinem Bruder gleichtun will. Das letzte Kapitel handelt von Leo, mit der Angel mitten im Fluss stehend und von Hermann und dem mysteriösen uralten Fisch träumend. Ganz am Ende von "Überm Rauschen" regiert der Fluss. Von ihm sagt der Stiefvater, nur er werde ewig unser Erbteil sein.

    Norbert Scheuer hat "Überm Rauschen" mit einer geradezu traumwandlerischen Leichtigkeit geschrieben. So nimmt man den Roman wahr wie einen sachte dahinplätschernden Bach. Man könnte meinen, der Roman sei nichts anderes als dieses Gewässer, auf dem am Ende Hermann und Leo hinunter treiben. In einer Welt, die beides ist: fiktiv und real.
    Ob das der Ausweis für den modernen Roman sei? Norbert Scheuer ist sich da nicht sicher. Ihn interessiere diese Frage nicht sonderlich, antwortet er:

    "Ich weiß gar nicht, was ein moderner Roman ist. Ich weiß nur, was ein gut erzählter Roman ist. Und im Grunde ist das für mich das Kriterium."

    Norbert Scheuer, "Überm Rauschen", C. H. Beck Verlag 2009, 167 S., 17,90 Euro.