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Aus den Untiefen

Nach dem faszinierenden autobiographischen Roman "Der gute Stalin" hatte man wahrlich einen anderen, reiferen Viktor Jerofejew erwartet und wird enttäuscht. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich dann auch, dass von den zwölf in dem Band zusammengestellten Erzählungen zehn schon vor Jahren in Russland erschienen sind.

Von Karla Hielscher | 14.12.2006
    Es ist natürlich verführerisch, von einem so allgegenwärtigen, einflussreichen Autor wie Jerofejew, der die russische Gegenwartsliteratur als Schriftsteller, Kritiker und Literaturwissenschaftler nun seit Jahrzehnten entscheidend mit geprägt hat, jeden irgendwo publizierten Text zu veröffentlichen. War es doch seine grotesk phantastische, parodistische postmoderne Prosa, die - angefangen mit dem noch zu Sowjetzeiten erschienenen Dissidenten-Almanach "Metropol" über sein berühmtes Manifest "Nachruf auf die Sowjetliteratur", seinen Roman "Die Moskauer Schöne" u.v.a. - die mit ihrem radikalen, tabubrechenden Provokationsgestus dazu beitrug, die gesamte moralinsaure russische Literaturtradition frech-fröhlich zu Grabe zu tragen. Gegen den erhabenen moralischen Anspruch - dreiste Zerstörung aller ideologischen Muster der russischen Kultur durch parodistisches Spiel damit; gegen die herrschende Prüderie in der Literatur - aggressive Körperlichkeit, schamlose Sex- und Ekeldarstellungen; gegen die sauber gereinigte Literatursprache - der hemmungslose Gebrauch von ordinären Wörtern und Gossenjargon. Provokation als Programm! Das verbraucht sich natürlich nach einer gewissen Zeit.

    Mit dem Roman "Der gute Stalin" von 2004 - dieser frei gestalteten Geschichte seiner Familie, seines Werdens zum Schriftsteller, der Auseinandersetzung mit der russischen Kultur und Mentalität, dem Thema von Gedächtnis und Tod - war ein neuer Ton erreicht. Hier war hinter der spielerischen Leichtigkeit Ernst und Tiefe zu spüren; und die ausschweifenden Sexszenen erfüllten eine ästhetische Funktion im Text.

    Und nun dieser lieblos zusammengestellte Band mit dem ambitioniert anspruchsvollen Titel "De Profundis" - "Aus den Tiefen". Demonstriert es doch eine den Leser verachtende Leichfertigkeit, wenn jene verzweifelte Psalmen-Anrufung Gottes, die einigen der erschütterndsten Texte der Weltliteratur ihren Namen gegeben hat - Oskar Wildes Aufschrei aus dem Gefängnis oder jenem russischen Sammelband von 1918, der in apokalyptischen Bildern die Bilanz der Schrecken der Revolution zieht - einer beliebigen Sammlung disparater Texte vorangestellt wird. Die Titelgeschichte behandelt die irritierende Erfahrung eines Beerdigungsinstituts für Kinder, in dem die kleinen Toten engelhaft herausgeputzt und geschminkt werden. Es finden sich aber auch knappe Kurzgeschichten, komische Dialogszenen im Schlafwagen und eher essayistische Texte, in denen der Ich-Erzähler dem Autor ganz nahe steht. Themen der Erzählungen: der Schriftsteller auf Lesereise, der mit einer 15jährigen, ihn anbetenden Schülerin im Bett landet; der Besuch bei einem monsterhaften alten patriotischen Schriftsteller, der die neue Zeit als Ergebnis der Verschwörung der CIA begreift; die phantastische Verarbeitung der Eindrücke einer Reise nach Tibet; die Fahrt eines Künstlers in die russische Provinz, die in einem wilden, widerlichen pornographischen Schokoladen-Schmier-Happening gipfelt. Und in fast allen Texten die altbekannten Motive von Ficken und Arschlecken, Fotzen und Kotzen, Pissen und Schwanzlutschen. Man will es einfach nicht mehr lesen!

    Dabei kann einem beim flüchtigen Lesen durchaus entgehen, dass einige der Texte sehr hintergründige Geschichten sind, in denen raffiniert mit Realität und literarischer Fiktion gespielt wird, in denen sich plötzlich bedrohliche, düstere Abgründe auftun. Wenn sich etwa aus den verworrenen Satzfetzen der verführten Schülerin Ljussja andeutungsweise die Geschichte eines Mordes zusammensetzt oder man den schwarzen Humor der Erzählung "Einer zuviel" begreift, in der die vergötterte Frau vom Tod aller von ihr geliebten Männer berichtet. Und die Erzählung "Serie" bietet mit ihrer witzigen Montage der im postsowjetischen Russland herrschenden musealen Mischung aus patriotischem Pathos in den Gedenkstätten für den Krieg gegen Napoleon, den Bürgerkrieg, den großen Vaterländischen Krieg, von kitschiger Folklore und plattesten Sexszenen durchaus ein drastisches Sinnbild der heutigen geistigen Situation Russlands auf dem Hintergrund der russischen Geschichte. Die einzige für diese Sammlung neu verfasste Erzählung "Mütter und Töchter" macht den ungeheuren Bruch zwischen der vor und nach der Wende aufgewachsenen Generation der russischen Intelligenzija deutlich. An einigen Texten zeigt sich also, dass Jerofejew durchaus mehr zu bieten hätte als der Band in seiner nachlässigen Beliebigkeit zeigt. Der Autor und sein deutscher Verlag haben sich mit diesem Buch keinen Gefallen getan.