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Aus der Nachrichtenredaktion
Ein Urteil, über das (fast) niemand spricht

Ein Kardinal der katholischen Kirche steht in Australien vor Gericht. Die australische Justiz verhängt eine weltweite Nachrichtensperre. Worum es geht - und warum wir uns nicht an die Nachrichtensperre gehalten haben.

Von Marco Bertolaso | 14.12.2018
    Australische Zeitungen zur Nicht-Berichterstattung über den Fall George Pell
    Australische Zeitungen zur Nicht-Berichterstattung über den Fall George Pell (Twitter / DLF24)
    In vielen Ländern der Welt wird gegen Priester ermittelt, die Kinder missbraucht haben sollen oder an der Vertuschung solcher Fälle mitgewirkt haben sollen. Der ranghöchste von ihnen ist der australische Kurienkardinal George Pell. Der 77-jährige, der einst als die Nummer drei im Vatikan galt, steht in Melbourne vor Gericht, wo er früher Bischof war.
    Das geheime Urteil
    Ein erstes Urteil ist nun offenbar gefallen. Aber niemand darf berichten. Öffentlich bekannt ist nur, dass Pell in dieser Woche in Rom degradiert wurde. Er zählt nicht mehr zum Kreis der bisher neun beratenden Kardinäle von Papst Franziskus. Das teilte Papstsprecher Greg Burke in Rom mit. Franziskus dürfte seine Informationen haben.
    Die australische Rechtslage sieht vor, dass Geschworene durch Medien nicht beeinflusst werden sollen. Deshalb gibt es eine Nachrichtensperre. Sie gilt auch nach dem ersten Urteil weiter. Denn auf Pell kommt noch ein zweiter Teil des Prozesses zu. Die Richterin teilte das Verfahren auf, weil es einmal um Vorwürfe aus den 1990er Jahren geht, ein anderes Mal um die 1970er Jahre.
    Auf die "Suppression Order" hat sich in dieser Woche auch der Papstsprecher berufen, als er die Degradierung Pells verkündete. Sie wendet sich aber in erster Linie an Medien, die Nachrichten verbreiten, die in Australien abrufbar oder sonst erhältlich sind. Im Falle einer Missachtung der Anweisung drohen Strafen.
    Nachrichtensperre weltweit
    Der Nachrichtensperre beugen sich Medien weltweit. Die "Süddeutsche Zeitung" zum Beispiel berichtet über "Die größte Geschichte Australiens", aber beginnend mit der Webseite löst sie das Geheimnis in allen digitalen Produkten nicht auf. Denn diese seien ja auch in Australien erreichbar. Die SZ verweist für weitere Informationen auf die Printausgabe.
    Anders hält es das Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland. Auf katholisch.de findet sich eine umfassende, kritische Berichterstattung zu dem Fall und zu dem ersten Urteil. Die "Washington Post" hat die Meldung ebenfalls gebracht.
    Warum wir berichten
    Und auch wir berichten. Das Thema ist weltweit bedeutsam. Es ist bedeutsam für die deutsche Gesellschaft. Der Missbrauch durch Priester und die langen Jahre der Vertuschung haben auch unser Land erschüttert. Auch in Deutschland sind viele Menschen Opfer geworden. Und auch bei uns wird über die Rolle der Kirche diskutiert. Dabei geht es nicht zuletzt um den Vatikan und seine hohen Vertreter wie Kardinal Pell. Die Relevanz des Themas steht also außer Frage.
    Wir senden und informieren im Netz für ein deutsches Publikum, jedenfalls für ein deutschsprachiges. Wir erkennen nicht, wie unsere Nachrichten Geschworene in Australien beeinflussen könnten. Denkt man das Prinzip der "Suppression Order" zu Ende, dann könnten wir über viele Ereignisse in anderen Ländern nicht berichten, über die unser Publikum etwas erfahren will und soll.
    Australische Gerichte verhängen solche Informationssperren immer wieder, auch wenn es um Sicherheitsthemen geht oder Korruption in Ländern, mit denen Australien politische und wirtschaftliche Interessen verbinden. "Reporter ohne Grenzen" hat diese Praxis kritisiert. In Zeiten von Smartphones und sozialen Medien scheint die Idee, Geschworene mit einer Nachrichtensperre von Informationen fernzuhalten, überdies aus der Zeit gefallen.
    Der Hintergrund
    Pell wird in Australien Missbrauch Minderjähriger vorgeworfen. Er streitet alle Vorwürfe ab und ist auf Kaution frei. Er wurde im Juli vor einem Jahr von seinem Amt als Finanzchef des Vatikans freigestellt - bisher wurde kein Nachfolger auf diesem wichtigen Posten ernannt.
    Im Februar findet im Vatikan eine Konferenz zum Thema Missbrauch statt. Opfer fordern mehr als Worte. Sie wollen eine ernsthafte Aufarbeitung von höchster Stelle. Der Fall Pell bringt den Papst selbst in Bedrängnis.
    Die Missbrauchsfälle beschäftigen die australische Gesellschaft sehr. Darüber und über die Vorwürfe gegen Pell hat der Deutschlandfunk mehrfach berichtet, zum Beispiel im März 2018. Im September 2018 haben wir in der Reihe "Hintergrund" vor der Tagung der Deutschen Bischofskonferenz eine Sendung mit dem Titel "Strukturen des Missbrauchs - Vom Versagen der katholischen Kirche" ausgestrahlt. Wir haben uns immer wieder auch beschäftigt mit der von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebenen Missbrauchsstudie der Katholischen Kirche.
    Was wissen wir über ein Urteil in Melbourne?
    Die wesentliche Quelle für das erste Urteil ist die Webseite "Vatican Insider". Dies ist nicht irgendein Blog, sondern ein Projekt der italienischen Tageszeitung "La Stampa" aus Turin. Es dient der journalistischen Beobachtung der Kurie.
    Nach den Informationen von "Vatican Insider" ist Pell am Dienstag in fünf Anklagepunkten für schuldig erklärt worden. Es gehe einmal um Gewalt gegen einen Minderjährigen in den 1990er Jahren und viermal um "obszöne Handlungen". Die Geschworenen hätten ihn nach knapp viertägiger Beratung einstimmig für schuldig befunden.
    Die Strafe soll am 4. Februar verkündet werden. Die Verteidigung wird dem Gericht dann ihre Einwände vorlegen, bevor dieser das Strafmaß mitteilt. In Australien gibt es keine Verjährungsfristen bei sexuellen Übergriffen gegen Kinder und Jugendliche. Schwere Fälle können mit bis zu 25 Jahre Haft bestraft werden.