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Aus der Nachrichtenredaktion
Nachrichten in Zeiten des Terrors

Bundestag, EU-Gipfel und Inflation, das ist Nachrichtenalltag. Terror, das ist etwas ganz anderes. Wie macht man in solchen Zeiten anständige Nachrichten, ohne Hektik, ohne Oberflächlichkeit, ohne Panik?

Von: Marco Bertolaso | 26.11.2015
    Eine Menschenmenge steht auf der Straße, zu ihren Füßen viele Blumensträuße, außerdem im Bild: die französische Flagge
    Nach dem Terror in Paris. Menschen begehen eine Schweigeminute. (picture-alliance / dpa / Etienne Laurent)
    Panikmache
    Panikmache ist definitiv nicht Aufgabe einer Nachrichtenredaktion. Was schlimm ist, ist schlimm. Aber die Anschläge in Paris machen Tübingen nicht per se zu einem gefährlichen Ort. Und wir sollten das auch nicht nahe legen.
    Sprache
    George W. Bush mag nach 9/11 vom Krieg sprechen, auch der französische Präsident mag es nach den Anschlägen von Paris tun. Wir nicht. Wir zitieren, wir machen Stimmungen und Spin deutlich. Aber wir tragen kein Khaki. Und in erster Linie berichten wir darüber, was ist. Das können Sie auf alle sonstigen Vereinfachungen und Wertungen übertragen.
    Beide Türme des brennenden World Trade Center in New York stürzen nach dem Terror-Anschlag am 11.9.2001 in sich zusammen. 
    Beide Türme des brennenden World Trade Center in New York stürzen nach dem Terror-Anschlag am 11.9.2001 in sich zusammen. (picture-alliance / dpa)
    Distanz
    Wir wahren die Distanz der Berichterstatter. Wir präferieren keine bestimmten Reaktionen auf Terror. Nicht in den Nachrichten. Wir erörtern Entscheidungen, wir zeigen das Pro und Contra auf. Wir lassen alle zu Wort kommen. Wir nehmen auch niemanden in Sippenhaft. Nicht die Muslime, nicht Bewohner von Molenbeek oder die der Pariser Vorstadt Saint-Denis.
    Neutralität
    Natürlich sind wir unparteiisch. Doch das wichtige Diktum, man möge sich mit keiner Sache gemein machen, auch nicht mit einer guten, diese Maxime hat eine Fußnote: Wir machen natürlich keine "Greenpeace-und-Amnesty-Nachrichten". Aber der gleiche Abstand zu Terroristen und französischer Regierung? Unmöglich. Wir sind auf Werte verpflichtet, in Deutschland sind wir "die Grundgesetzpresse".
    Verhältnismäßigkeit
    Ein Anschlag in Paris, Terroralarm in Brüssel, das ist wichtig, sehr wichtig für Menschen in Deutschland. Wir reden über Nachbarn, vielleicht über Freunde und Bekannte. Wir sprechen von der gemeinsamen EU-Heimat und einer gemeinsamen Bedrohung. Wir dürfen aber nicht die Anschläge desselben sogenannten "Islamischen Staates" in Ankara klein machen, wir dürfen nicht Boko Haram vergessen. Wir würden den Auftrag verfehlen, die Weltpolitik verständlich zu machen. Es wäre auch nicht klug. Denn im Grunde ist es die eine unteilbare Gefahr. Ganz abgesehen von dem Respekt vor den Opfern in der Türkei, in Nigeria und andernorts.
    Ein Mann trauert in der Nähe des Anschlagsortes in Ankara um die Opfer.
    Bei einem Bombenanschlag in der türkischen Hauptstadt sind zahlreiche Menschen getötet worden. (dpa / Burhan Ozbilici)
    Wurzeln des Terrors
    Wer andere Menschen tötet ist schwerstkriminell und muss zur Rechenschaft gezogen werden. Soweit, so klar. Geht es um die Hintergründe, ist aber auch das zu beachten: Wenn die meisten Terroristen in Paris den Pass eines europäischen Landes haben, wenn sie in unserer Nachbarschaft groß geworden sind, dann tun wir nicht so, als wären die Angreifer Außerirdische, als gäbe es keinen Zusammenhang zur Lage der Integration in Europa. Wenn verbündete Staaten den sogenannten "Islamischen Staat" unterstützen und finanzieren, dann müssen wir auch darüber berichten. Auch wenn Deutschland Waffen in diese Länder liefert und wichtige Wirtschaftsbeziehungen unterhält. Ja dann erst recht.
    Zusammenhänge
    Wenn Politiker einen Zusammenhang ziehen zwischen Terror und Flüchtlingsbewegung, dann berichten wir. Wir machen uns das aber nicht zu Eigen. Am Tag nach den Anschlägen in Paris hieß es, zwei getötete "Attentäter seien Migranten aus Syrien gewesen". Denn man habe die Pässe gefunden. Ich bin stolz, dass die DLF-Nachrichten dies aufgegriffen haben mit der Klarstellung, dass man nicht wisse, ob es die echten Pässe der Männer gewesen seien. Heute wissen wir ziemlich sicher: es war nicht so.
    Faktor Religion
    Darum können wir keinen Bogen machen. Die Morde werden vorgeblich im Namen einer Religion begangen. Wir müssen das erklären, aber eben auch berichten, dass fast alle Anhänger dieser Religion mit Gewalt nichts zu tun haben. So hätte es der Deutschlandfunk vermutlich im Mittelalter auch in der Berichterstattung über die Kreuzzüge gehalten.
    Terroristenführer Osama bin Laden trägt jetzt einen schwarzen Bart.
    Terroristenführer Osama bin Laden verwies stets auf eine religiöse Begründung seiner Anschläge. (AP)
    Putin, Erdogan et. al.
    Wir müssen die Handlungen autoritärer Präsidenten und Regierungen verdeutlichen. Wir müssen aber auch erklären können, warum es Mehrheiten für diese Politiker und Regierungen in ihren Ländern gibt. Und auch hier sind wir fair. Wir zeigen Tatsachen auf und kontrastieren Argumente. Wir machen keine Propaganda. Für niemanden.
    Keine Monokultur
    Terror, Terror, Terror. So können Nachrichtensendungen nicht sein. Es verstellt den Blick auf andere wichtige Themen. Es beeinträchtigt die journalistische Kontrolle ganz anderer Entscheidungen. Und es gibt den Menschen das falsche Signal. Das Gesagte gilt auch für Ukraine, Ukraine, Ukraine oder Griechenland, Griechenland, Griechenland. Anständige Bauern wollen keine Monokultur. Anständige Nachrichtenredakteure wie wir wollen mit seltenen Ausnahmen vielfältige Sendungen bieten.
    Soweit die Werte. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Nun zum Handwerk unter Zeitdruck.
    "Richtig geht vor schnell"- richtig?
    Was macht eine Nachrichtenredaktion, wenn die Eilmeldung über Explosionen am "Stade de France" kommt oder über eine Bombe in einem Krankenwagen in Hannover? Was, wenn wie jüngst der Terrorverdächtigen Salah Abdeslam in der Nähe eines für kleine Preise bekannten Supermarktes in Ostwestfalen gesehen worden sein soll? Die ehrliche Antwort: dann wird es knifflig.
    Auf der Website eines E-Mail-Providers wird am 20.12.2012 in Frankfurt am Main (Hessen) auf den "Weltuntergang im Live-Ticker" hingewiesen, der mit einem Klick zu erreichen ist. 
    Vom Fußballspiel über die Krim-Krise bis zum von den Maya angekündigten Weltuntergang: Newsticker im Web gibt es inzwischen zu fast allen Themen. (dpa / picture alliance / Frank Rumpenhorst)
    "Alles raushauen", sagen die Betreiber mancher Live-Ticker. "Right or wrong – my click". Andere sagen, "Ordentliche Journalisten warten ab. Sie warten so lange ab, bis wir eine anständige Bestätigung haben."
    In Wirklichkeit ist es komplizierter. "Exklusive Meldungen sind gut, exklusive Dementis sind sehr schlecht", sagte mein Vorgänger im Amt – und er hat Recht. Bei uns muss alles stimmen. Aber wir können auch nicht die Letzten sein. Wären wir es oft oder immer, warum sollten die Menschen ausgerechnet bei uns Informationen suchen? Nachrichten sind Nachrichten, nicht das Feature.
    Einhundert Sekunden Einsamkeit
    Was also tun, wenn man manchmal in Sekunden eine Entscheidung treffen muss? Viele eherne Regeln stammen aus der Zeit mit einer Sendung pro Stunde oder mit einem Redaktionsschluss vor dem Druck. Ganz wichtig sind Erfahrung und Plausibilitätsprüfung. Eine Bombe im Krankenwagen? Kann sein, aber hört sich doch sehr schräg an. Da warten wir lieber, bis wir mehr wissen. Die Polizei berichtet über eine Fahndung in Ostwestfalen? Gute Quelle. Machen und einordnen, mit dem Hinweis darauf, was wir alles nicht wissen. "Fahndung ja, aber ob es um den Hauptverdächtigen aus Paris geht, das wissen wir nicht."
    Und konkret: Der Deutschlandfunk macht so gut wie keine Liveticker. Wir bringen Eilmeldungen und twittern. Da stehen wir zu. Wir überlassen das Netz nicht stolz den anderen. Wir wollen dabei aber immer noch stolz auf unsere Arbeit sein. Heißt: Tweet und Eilmeldung immer mit Quellenhinweis. Dann schreiben wir Meldungen für das Netz und für die nächste Sendung. Immer mit Transparenz: was ist gesichert und was nicht. So kann es schnell gehen und gut zugleich.
    Exkurs: Das Zwei-Quellen-Prinzip
    "Eine Quelle allein begründet keine Nachricht. Für eine Nachricht braucht es mindestens zwei Quellen." So sagen viele. Manchmal reicht aber eine Quelle, zum Beispiel die eines Korrespondenten, der etwas gesehen oder gehört hat. Manchmal sind zwei oder drei Quellen keine Hilfe – schlicht, weil sie alle dieselbe Ur-Quelle haben: einen Politiker, der etwas geschickt platziert hat oder ein Gerücht, welches auch bei der n-ten Wiederholung eines bleibt: nämlich ein Gerücht. Mir gefällt besser, was im Pressekodex steht: "Unbestätigte Meldungen, Gerüchte und Vermutungen sind als solche erkennbar zu machen." Und, wenn es nur eine Quelle gibt, wir aber von Relevanz und Wahrheit überzeugt sind, dann melden wir und legen alles offen.