Samstag, 20. April 2024

Aus der Nachrichtenredaktion
Streit der Intellektuellen über die Flüchtlingspolitik

Die Flüchtlingspolitik - sie prägt die Arbeit auch in unserer Nachrichtenredaktion seit langem. Zahllose Fakten und noch mehr Meinungen erreichen uns Tag für Tag. Und endlich gibt es auch einen Streit unter den deutschen Großdenkern und Welterklärern.

Von Marco Bertolaso | 11.02.2016
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    "Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können“ - Herfried Münklers Antwort auf Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk ("Die Zeit" vom 11.2.16)
    Na also, geht doch! Endlich mal eine schöne Rauferei unter deutschen Intellektuellen zu einem wichtigen politischen Thema. In der Nachrichtenredaktion begleiten wir seit Monaten das Auf und Ab, das Für und Wider in Sachen Flüchtlingspolitik. Wir kümmern uns um das Organisatorische und Politische, das Wirtschaftliche und Soziale. Wir schauen auf Merkel und Seehofer, blicken nach Syrien und auf die Balkanroute, zitieren Kirchenmann und Kirchenfrau – aber von unseren großen Denkern kam bislang nicht viel an Debatte.
    Fast musste man schon denken, das von den "besorgten Bürgern" beargwöhnte Staatsermatten finde seinen Widerhall im Ermüden der intellektuellen C-4-Professoren und Großschriftsteller. Fast musste man vermuten, die deutsche Debattenkultur sei auf ewig dazu verdammt, klein und unscheinbar neben den Streitkulturen in Frankreich oder Großbritannien zu stehen.
    Herfried Münkler ist der Kragen geplatzt
    Aber damit ist es nun vorbei. Der Dank geht an Herfried Münkler. Dem Hessen mit Berliner Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte ist der Kragen geplatzt. Er hat das Staats- und Grenztümeln von Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk nicht mehr ausgehalten. In der neuen Ausgabe der "Zeit" geht er die beiden auf Seite sieben hart an. Die Überschrift "Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können" lässt die Stoßrichtung ganz gut erkennen. (Den Artikel gibt es "paper first" oder vielleicht sogar "paper only", daher können wir ihn nicht verlinken).
    Sloterdijk warnt vor Souveränitätsverzicht
    Zunächst einmal: worum geht es? Slotderdijk hatte jüngst im Interview des Magazins "Cicero" die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin angegriffen. Er geißelte Souveränitätsverzicht, warnte vor einer Überrollung Deutschlands und klagte, die Deutschen hätten "das Lob der Grenze nicht gelernt". In Deutschland glaube man nämlich immer noch, "eine Grenze sei nur dazu da, um sie zu überschreiten". Sloterdijk verband dies mit Medienschelte. Im Journalismus träten "Verwahrlosung" und "zügellose Parteinahme" sehr deutlich hervor. Die angestellten Meinungsäußerer seien weder neutral noch objektiv.
    Safranski geißelt Gesinnungsethik
    Rüdiger Safranski hat seinen Bedenken ebenfalls und mehrfach medialen Ausdruck verleihen können, zum Beispiel in der "Neuen Zürcher Zeitung". Da bescheinigte er "den Deutschen" pubertäres Verhalten und sprach: "Man sieht sich selbst als Rettungsanker aller Vertriebenen und Verlorenen, man praktiziert Gesinnungsethik statt Verantwortungsethik." Dann macht sich der große Denker an die Deutung eines vielleicht noch ein wenig größeren. Auf die pfiffige Frage der NZZ "Was hat denn Schiller gemeint, wenn er rief ‚Seid umschlungen, Millionen?'", hat Safranski die Antwort parat: "Das war abstrakt und erhaben. Heute kann es uns passieren, dass nicht wir die Millionen umschlingen, sondern die Millionen uns." In der Zürcher "Weltwoche" brachte Safranski dann die "failed-state-Analogie": "Wenn eine Staatschefin wie Angela Merkel sagt: ,Wir können die Grenzen nicht mehr kontrollieren', reiht man sich ein unter die zerfallenden Staaten, wie jene in Afrika."
    "Strategische Unbedarftheit" der "Grenzschließer unter den Intellektuellen"
    Nun also antwortet Herfried Münkler. Er bescheinigt Safranski, Sloterdijk und anderen "Grenzschließern unter den Intellektuellen", wichtige Aspekte des Flüchtlingsthemas nicht im Blick zu haben. Dies zeige "die strategische Unbedarftheit ihres Dahergeredes". Münkler meint, die beiden Philosophen seien zum Opfer ihrer Vorliebe für Metaphern geworden. Diese Neigung habe sie daran gehindert, analytisch zu durchdringen, worüber sie so wortreich redeten.
    Die geforderte Analyse sieht nach Münkler so aus: Bundeskanzlerin Merkel stand vor einer Entscheidung. Soll sie zulassen, dass die Massenmigration zahlreiche kleine EU-Staaten destabilisiert und wichtige Fundamente der europäischen Union zerstört? Soll sie die Verantwortung dafür übernehmen, dass dafür in der Weltmeinung deutscher Egoismus verantwortlich ist und sich das Bild unseres Landes wieder verdunkelt? Sollen ausgerechnet unter ihrer Führung Grenzen wieder entstehen, die nicht nur zum Verlust von Freiheiten führen, sondern auch zu wirtschaftlichen Schäden? Soll sie diese Schäden verantworten, die die Kosten deutscher Flüchtlingshilfe um vieles übersteigen?
    Deutschland als "Überlaufbecken" zur Rettung Europas
    Die Kanzlerin, so Münkler, habe einen anderen Weg gewählt. Sie habe Deutschland als eine Art "Überlaufbecken" für die Flüchtlinge bereitgestellt. Damit habe sie versucht, das Gebiet der Bundesrepublik als Raum zum Gewinn von Zeit zu nutzen. Der Tausch "Raum gegen Zeit" sei ein Grundelement strategischen Denkens, hebt Münkler hervor. Solches strategische Denken fehle offensichtlich Sloterdijk, Safranski und Co., die ihrerseits den Nationalisten in Europa unbedacht in die Hände spielten. Wenn Angela Merkels Kalkül wirklich so aussieht, dann hat Münkler es jedenfalls für mich besser erklärt, als es die Kanzlerin bisher selbst vermocht hat.
    Bitte mehr Streit der Intellektuellen!
    Soweit das, was bisher geschah. Hoffentlich geht der intellektuelle Streit weiter. Vielleicht antworten die beiden Philosophen auf den Politikwissenschaftler. Vielleicht werden medial auch einmal Diskussionsbeiträge verbreitet, die nicht von älteren, weißen Herren kommen. Zumindest einen etwas jüngeren Mann hätten wir hier im Angebot: Deutschlands - wenn man so will - oberster Verfassungsexperte ist derzeit Andreas Voßkuhle. Bei uns im Deutschlandfunk hielt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts vor kurzem den Kritikern Merkels entgegen, die Idee eines Staates, der sich vor allem über Grenzen und ein Staatsvolk definiere, sei eine "Idee des 19. Jahrhunderts".
    Carl Schmitt und Angela Merkel
    Zum Abschluss erlauben Sie mir noch folgende Bemerkung: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." So der berühmte und gefürchtete Satz aus der "Politischen Theologie" von Carl Schmitt. Des Staatsrechtlers wird vor allem in konservativ-nationalen Kreisen noch viel gedacht. Auch dort wird man neidlos anerkennen müssen: Angela Merkel hat einen Ausnahmezustand definiert und eine Entscheidung getroffen. So gesehen, ziemlich souverän, die Kanzlerin.