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Aus der Nachrichtenredaktion
"Wo bleibt das Positive in den Nachrichten?"

"Tote beleben jede Sendung." Dieser Spruch war oft zu hören, als ich vor langer Zeit in das Nachrichten-Handwerk eingeweiht wurde. Und heute? Krisen und Kontroversen, Unfälle und Unglücke, all das füllt weiter einen beachtlichen Teil der Nachrichten. Warum ist das so?

Von Marco Bertolaso | 11.09.2015
    Uns würde interessieren, wie Sie darüber denken. Vielleicht haben Sie Vorschläge, wie eine noch bessere Information aussehen könnte. Kleine Bitte: über "Lügenpresse" und so was wollen wir hier ausnahmsweise einmal nicht streiten. Das machen wir oft genug. Wir würden gerne mit Ihnen sachlich über dieses uns wichtige Thema ins Gespräch kommen. Diskutieren Sie in den Sozialen Medien oder schicken Sie uns eine Mail an vergessene-nachrichten@deutschlandfunk.de.
    Nachrichtenredakteure prüfen sich ständig
    In der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion prüfen wir unser Tun dauernd. Tatsächlich. Ist wirklich so! Wir beschäftigen uns mit der Sprache und mit den Erwartungen unserer Hörer-Nutzer-Beitragszahler. Wir suchen neue Verbreitungswege. Wir versuchen, Sie – wie gerade jetzt – auch im Internet zu erreichen und in den Sozialen Medien. Wir halten Ausschau nach neuen Quellen jenseits von Presseerklärung und Sommerinterview und diskutieren mit Gästen darüber. Wir fragen uns, welche Teile der Welt zu wenig Beachtung finden und welche Themen im Nachrichtenfluss zu kurz kommen. Wir schreiben auch Nachrichten in einfacher Sprache für all die Menschen, die mit dem üblichen Angebot nicht klar kommen. Von all dem vielleicht ein anderes Mal.
    Das "Erich-Kästner-Problem"
    Heute geht es um das Erich-Kästner-Problem. Wo bleibt das Positive? Diese Frage bewegt sehr viele Menschen. Neben dem Vorwurf, wir berichteten bei diesem oder jenem Thema parteiisch, ist dieser Punkt der Klassiker der Kritik an uns. Die Argumentation lautet meist: Die herkömmliche Nachrichtengebung bildet die Welt völlig verzerrt ab. Das ewig Negative gibt den Menschen falsche Verhaltensanreize. Journalisten schüren Ängste und Depressionen.
    Menschen interessieren sich seit jeher mehr für die Ausnahme denn für die Regel. Jeder würde über den Brand zwei Straßen weiter mit anderen sprechen. Würde er aber auch über all die Häuser reden, bei denen die Feuerwehr noch nie war? Ein Streit zwischen Deutschland und Russland schafft es auf die Seite eins, das gute und ruhige Verhältnis zu Belgien wohl eher nicht.
    Sicherheit und Orientierung als Motive der Nachrichtennutzung
    So weit so normal. Denn neben der Neugier ist ein anderer wesentlicher Grund der Nachrichtennutzung, über Gefahren und Probleme informiert zu sein – um sich einstellen und wappnen zu können. Sicherheitsbedürfnis und Wunsch nach Orientierung in potenziell gefährlicher Umgebung als Motive der Nachrichtennutzung sollte man nicht unterschätzen. Dem werden die Journalisten gerecht, wie schon die Botenläufer des römischen Reiches oder die ziehenden Neuigkeitsverkünder des Mittelalters.
    Kontrolle der Mächtigen
    Und dann verstehen sich westliche Journalisten schon lange als Kontrolleure der Macht. In Deutschland erst recht. Das überrascht wenig nach den Erfahrungen mit der Propaganda zweier Diktaturen. Die Folge ist ein grundsätzliches Hinterfragen, die Suche nach einem Haar in jeder Suppe. Denn von Erfolgen künden die Mächtigen schon selbst. Daher der Sinnspruch: "Journalismus heißt, etwas zu drucken, von dem jemand will, dass es nicht gedruckt wird. Alles andere ist Public Relations."
    Alternativen zum "kritischen Imperativ"
    Diesem kritischen Imperativ wurde auch in Deutschland schon der eine oder andere Versuch entgegengesetzt. Zum Beispiel "die gute Nachricht der Stunde oder des Tages". Die Logik: So wie William Shakespeare selbst in seinen Tragödien immer wieder eine Gelegenheit zum Lachen gibt, so sollten auch die Nachrichten Momente der Entspannung möglich machen. Doch Meldungen wie "Die Lufthansa-Maschine aus New York ist soeben in Frankfurt sicher gelandet" wurden vom Publikum nicht angenommen.
    Nachrichten mit Promis, Lottogewinnern und niedlichen Katzen?
    Dramatisch erfolgreicher ist die Vermengung von Information und Unterhaltung. Alles rund um Prominente jeglicher Branche - das ist in manchen Medien die halbe Miete. Und wenn es nicht genug Prominente gibt, dann baut man sie selbst auf. Der Lottogewinner, ein paar Kinder. Immer wieder gerne genommen werden auch Tiere. Aber Vorsicht: auch auf dem Boulevard hagelt es Verbrechen, Unglück und Schicksalsschläge. Auch der Boulevard zeigt nur zum Teil eine angeblich bessere Welt. Ansonsten setzt er ebenfalls stark auf das Negative, zum Beispiel die Sorgen der Prominenten. Hier erwächst also, von den Themen einmal ganz abgesehen, keine inhaltliche Herausforderung für die bestehende Nachrichtenlogik.
    Ulrik Haagerup und die Debatte über "constructive News"
    Constructive News

    Alain de Bottons Nachrichtenkritik
    Ob Haagerup den richtigen Weg weist, oder ob hier Grenzen wie die zwischen Information und Meinung überschritten werden, darüber wird derzeit viel diskutiert. Es ist in jedem Fall eine interessante Diskussion, die den Blick schärft. Eine solche Debatte auszulösen, das ist auch dem Anglo-Schweizer Alain de Botton gelungen. Sein Buch heißt kurz und knapp "News" oder in der deutschen Ausgabe "Die Nachrichten". Ihm geht es unter anderem um die Kurzatmigkeit und Mikrosicht der Nachrichten, die oft nur kleine und unverständliche Ausschnitte wichtiger Angelegenheiten zeigten. Er kritisiert aber auch die Berichterstattung über Wirtschaft und Soziales, die Aktienmarkt-hörig sei, ohne zu fragen, was all das für Menschen und Gesellschaften bedeutet. Seine Thesen erklärt Alain de Botton hier: