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Aus einer elementaren Welt

Michela Murgia ist mit einem tragisch-komischen Tagebuch über die Arbeit in einem Callcenter bekannt geworden und stellt in einem Reisebuch verborgene Wege ihrer Heimat Sardinien vor. Auch in ihrem ersten Roman "Accabadora" spielt sardisches Sagengut eine zentrale Rolle.

Von Bettina Hesse | 04.08.2010
    "Wenn es wahr ist, dass die Erde von denjenigen erzählt, die sie besitzen, erzählten die Hügel im Umland von Soreni eine komplizierte Geschichte."

    Die Erde ist ein bedeutender Bezugspunkt für die Dorfbewohner im Roman "Accabadora", sie leben von der Landwirtschaft. Die Erde speichert Geschichten und gibt sie weiter - als sei sie Element der Erinnerung; gleichzeitig ist sie auch der Ort, an den alle zurückkehren, wenn sich der Kreis des Lebens schließt. Geprägt vom archaischen Kampf um das Land, bildet sie mit ihrem eigenen unerbittlichen Rhythmus den realen wie symbolischen Boden des Romans.

    Im Sardinien der 50er Jahre wächst Maria auf. Sie ist das vierte, aber ungewollte Kind einer sehr armen Familie, der Vater starb vor ihrer Geburt, die Mutter schlägt sich so durch. Mit sechs wird Maria der reichen kinderlosen Witwe Bonaria übergeben, als Fillus de anima - eine Ziehtochter des Herzens. Die Dankesgaben sind frische Eier und Petersilie.

    Für Maria beginnt ein anderes Leben.

    "Nachdem sie sechs Jahre lang die Nächte in einem Zimmer mit drei Schwestern verbracht hatte, war Maria daran gewöhnt, nur den Raum um sich herum als den ihren zu begreifen, der nicht mehr als eine Armlänge von ihr entfernt lag."

    Nicht nur ihre Raumvorstellungen werden auf den Kopf gestellt, auch der Respekt, den die Bonaria ihr entgegenbringt, ist eine neue Erfahrung. Dass die Leute im Dorf über die alte Frau reden, bekommt das Mädchen nicht mit. Maria wird pflichtbewusst, religiös und zur Aufrichtigkeit erzogen. Sie ist ein aufgewecktes Kind, eine gute Schülerin und findet sich schnell zurecht. Ihrer Ziehmutter hilft sie beim Schneidern, aber bei aller klaren Strenge entgeht ihr nicht, dass diese ein dunkles Geheimnis hütet. Als die Alte eines Abends das Haus verlässt, muss Maria tags darauf mit ihr zu einem Kondolenzbesuch gehen. Allmählich setzen sich ihre eigenen Beobachtungen mit den Andeutungen der Leute zusammen, und es entsteht ein anderes Bild der alten Schneiderin, der Accabadora.

    In ihrer traditionellen und geregelten Lebenswelt gibt es auch angenehme Höhepunkte wie die Hochzeit der Schwester. Oder die alljährliche Weinlese, wenn der blinde Bastiù zu den Rebstöcken geführt wird und riechend bestimmt, ob die Trauben reif sind und die Ernte beginnen kann, dann darf Maria mit ihrem Freund Andría zusammenarbeiten.

    Alles geht so weiter, das Gerede im Dorf, der Aberglauben, die schlichten Gemüter, die meinen, die Dunkelheit könne die Absolution erteilen, und Verwünschungen gehören ebenso dazu wie der Animismus. Bis eines Tages Nicola, Andrías älterer und vitaler Bruder, bei einem Vergeltungsschlag ins Bein geschossen wird. Er wollte Rache üben am Nachbarn, der die Grenzmauer des väterlichen Landes heimlich versetzt hatte - ausgerechnet bei dem Stück Land, das Nicola einmal erben sollte. In Sardinien gilt dies als besonders schweres Vergehen.
    Das Bein verheilt nicht. Monatelang muss Nicola im Bett liegen und verbittert zusehends. Andría beobachtet seinen Bruder mit wachsender Unruhe. Als das Bein amputiert werden muss, verliert der junge Mann allen Mut: Er will nicht mehr leben und bittet die Accabadora um Sterbehilfe.

    In einer Nacht wird Andría Zeuge, wie die Bonaria ins Haus kommt und in Nicolas Zimmer verschwindet - für die Accabadora sicherlich einer der schwersten Gänge, sie ist Nicola besonders zugetan, doch beugt sie sich einer alten beruflichen Pflicht. Als Andría es Maria erzählt, bricht ihr Glaube an die Integrität der Bonaria zusammen. Sie verlässt die Insel und geht als Au-pair-Mädchen aufs Festland, wo sie eine neue Familienkonstellation erwartet. Auch wenn die dort entstehende emotionale Bindung ihre Anstellung gefährdet, folgt Maria ihrer eigenen Gefühlsethik, weniger dem pädagogisch Richtigen. So bleibt sie sich selbst treu, und das hat sie von der Bonaria gelernt.

    Die geheimnisvolle Figur der Accabadora, die den Menschen zum Sterben, oft auch als Hebamme zum Leben verhilft, entspringt der sardischen Legendentradition. Anthropologen sind sich uneinig darüber, ob sie tatsächlich existiert hat, die letzte ihrer Art soll 1952 dort gewirkt haben.

    Zur Figur der Accabadora befragt, antwortet Michela Murgia, dass sie ihr ein normales Leben als Schneiderin gegeben habe, da die literarische Gestaltung allein aus der Durchschnittlichkeit heraus funktioniere: Nur so kann sie tun, worum sie gebeten wird, was sie tun muss. Mit Euthanasie hat es wenig zu tun.

    Im Roman klingt magischer Realismus an, auch wenn die Autorin diese Zuordnung im Gespräch differenziert: Es sei der Blick von außen, denn in Sardinien gehöre das Magische zur Realität. Einer der Gründe, warum es der christliche Glaube zunächst schwer hatte auf der Insel.

    Sorgfältig sind die Motive gesetzt, wie die Episode am Anfang und Ende des Lebens der beiden außergewöhnlichen Frauen, als die Bonaria der kleinen Maria die großen Heiligenfiguren aus dem Zimmer räumt, weil sie sie fürchtet, und Maria für ihre Ziehmutter auf dem Sterbebett dasselbe tut, damit diese gehen kann. Dort beginnt sie schließlich auch, die "Arbeit" der Accabadora anders zu bewerten.

    Die sinnliche, bildreiche Sprache des Romans hat ihren Ursprung im Sardischen, in dem Michela Murgia ausschließlich denkt. An die Stelle von Substantiven treten in ihrer Muttersprache Bilder, oft ganze Geschichten, und die Autorin weiß es zu schätzen, dass die vielen Metaphern im Italienisch geschriebenen Text bleiben durften. Der sprachlichen Fülle steht eine geschickte dramaturgische Verknappung gegenüber, elementar und in humorvollem Ton wird nah an der Figur der Maria erzählt.

    So entsteht vom ersten Satz an die atmosphärische Dichte der sardischen Welt Mitte des 20. Jahrhunderts, in der Tradition und Moderne aufeinanderstoßen: Religiosität und Aberglauben, das Sardische und das Italienische als Sprache des übergeordneten Landes, sind die Konflikte dieser eigenen, der Natur, dem Magischen und der Tradition ergebenen Welt.

    Aus dem Gespür für kulturelle Zusammenhänge und der persönlichen Erfahrung in der sardischen Dorfgemeinschaft bezieht die eindrucksvolle Geschichte der Accabadora ihre plastische Kraft und erlangt eine zeitlose, mythologisch anmutende Gültigkeit.

    Michela Murgia: "Accabadora". Roman, 173 Seiten. Aus dem Italienischen von Julika Brandestini, Wagenbach 2010, 17,90 Euro