Dienstag, 16. April 2024


Aus Fehlern gelernt

Die Ausschreitungen mit 30 Toten im Brüsseler Heysel-Stadion 1985 erschütterten die Fußballwelt. Ein Umdenken setzte ein, Gewalt in den Stadien wird entschieden bekämpft, nach Möglichkeit mit scharfen Kontrollen schon im Keim erstickt. Doch die Gewalt am Rande der Spiele ist schwieriger zu bannen, wie der Angriff auf den französischen Polizisten Daniel Nivel bei der WM 1998 gezeigt hat.

Von Armin Himmelrath | 02.06.2006
    "Ich bin entsetzt, betroffen und bestürzt über das, was sich hier im Heysel-Stadion vor knapp 60.000 Zuschauern in den letzten 60 Minuten abgespielt hat. Der Sport, gedacht als eine Völkerverbindung, wurde hier zum Vehikel für bürgerkriegsähnliche Zustände. Es hat ganz, ganz schwere Ausschreitungen gegeben zwischen Fans des FC Liverpool und Fans von Juventus Turin."

    29. Mai 1985, das Brüsseler Heysel-Stadion: Eigentlich sollen der FC Liverpool und Juventus Turin an diesem Abend das Endspiel im Europapokal der Pokalsieger austragen. ZDF-Reporter Eberhard Figgemeyer kommentiert live.

    "Wo bleibt die Polizei? Die steht davor. Jetzt fangen sie an einzuschreiten. Das darf nicht wahr sein. Da trifft er ihn mit dem Stein am Kopf - und die Polizei schreitet nicht ein! Ich weiß nicht, was in den Köpfen dieser jungen Menschen vorgeht, möchte es vielleicht auch gar nicht wissen, jedenfalls bin ich bestürzt und entsetzt."

    30 Tote, mehr als 400 teils schwerstverletzte Fußballfans. Die Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion vor 21 Jahren ist zum Synonym für Gewalt rund ums Fußballfeld geworden.

    "Heysel wäre heute undenkbar. Die Stadien sind heute Hochsicherheitstrakte. Da passiert schon lange nichts mehr, das hat sich nach außen verlagert","

    sagt Gunter A. Pilz, Professor an der Universität Hannover. Der Erziehungswissenschaftler erforscht seit den 70er Jahren Fußballfans und ihre Gewaltkultur.

    ""Eines kann man auf jeden Fall feststellen: Dass die Gewalt aus dem Stadion rausgedrängt wurde. Das hat einmal mit den Infrastrukturen der modernen Stadien zu tun, das hat auch was mit der Perfektionierung der Sicherheitsmaßnahmen zu tun.

    Das war in England ganz typisch, die haben gesagt: Wir wollen den Hooliganismus dadurch bekämpfen, dass wir die Stadien familienfreundlicher machen, mehr Frauen in die Stadien holen, und damit eine ganz andere Stimmung ins Stadion reintun. Das ist ihnen auch gelungen, nur fehlt jetzt dieser traditionelle, wirklich spannende, typische englische roar in den Stadien, und jetzt versuchen sie wieder, das ein Stück zurückzubilden, um das wieder herzuholen."

    Auch für die kommende Weltmeisterschaft in Deutschland gilt die Devise: Familienfreundliche Stadien sind gewaltfreie Stadien. Deshalb wird es in den WM-Arenen ausschließlich Sitzplätze geben. So bleiben die Hooligans draußen. So war es auch 1998 bei der WM in Frankreich geplant. Der Polizist Daniel Nivel hätte diese Verdrängung der Gewalt aus dem Stadion fast mit dem Leben bezahlt.

    "Die Stimmung in Frankreichs Öffentlichkeit nach den Krawallen deutscher Hooligans in Lens ist gespalten. Das französische Fernsehen bemühte sich beispielsweise, in allen Sendungen die Atmosphäre nicht zusätzlich anzuheizen. So wurden Szenen nicht gezeigt, in denen eine marodierende Meute, deutschnationale Parolen brüllend..."

    "Der zuständige Staatsanwalt, Christian Russel, will weder bestätigen noch dementieren, dass ein zweiter Verdächtiger identifiziert worden ist. Nach zuverlässigen Informationen wurde der Mann am Sonntagabend festgenommen und von Zeugen des Anschlags auf den Polizeibeamten David Nivel wieder erkannt. Er wird voraussichtlich wegen versuchten Totschlags angeklagt."

    Nachdem deutsche Hooligans den Gendarmen Daniel Nivel fast zu Tode geprügelt hatten, stand kurzzeitig sogar der Ausschluss der deutschen Mannschaft vom WM-Turnier zur Debatte. Die Deutschen durften schließlich weiter mitspielen. Der damalige Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, Egidius Braun:

    "Ich bin entsetzt und fassungslos, was da geschehen ist. Ich kann ihnen überhaupt nicht sagen, was sich in mir persönlich abgespielt hat. Ich bin nicht nur Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, sondern ich bin auch ein Deutscher, ohne Chauvinist zu sein. Es kam mir darauf an, sehr deutlich zu machen, dass das Menschen sind, die man schon nicht mehr als Tiere bezeichnen kann. Das wäre eine Beleidigung, wenn man sagt: Das sind Tiere, die so etwas tun."

    Es sind Menschen, deren Verhalten sich erklären und mit der richtigen Vorbereitung auch vermeiden lässt, sagt dagegen Fan-Forscher Gunter A. Pilz:

    "Ich bin überzeugt: Heute würde Nivel nie mehr passieren, dieses Ereignis. Das wäre auch in Deutschland damals sicherlich nicht passiert. Das hat was damit zu tun, dass die Art und Weise, wie Polizei auf Hooligans reagiert - in Deutschland war das immer so, das sieht man auch in vielen Filmen, dass im Prinzip das ein Katz-und-Maus-Spiel war: In dem Moment, wo Hooligans in der Übermacht waren, hat sich auch Polizei zurückgezogen, und dann wieder angegriffen, wenn sie in der Überzahl waren. Und man hat also nicht sich dahingestellt heldenhaft und gewartet, bis die kommen, und dann überrannt wird."

    In Lens jedoch trafen deutsche Hooligan-Kultur und französische Polizei-Kultur zusammen. Mit fatalem Ausgang.

    "Der Daniel Nivel war in einer tragischen Situation: Der hatte den Auftrag, einen Polizeiauto, das dort in der Nähe stand, zu bewachen und sich nicht von der Stelle zu rühren. Und dann stürmen deutsche Hooligans auf den zu, in einer Erwartungshaltung: Der haut jetzt ab. Der ist aber nicht gerannt, sondern stehen geblieben: Der erste rempelt ihn um, da ist der nächste, gibt ihm eine rein - die waren völlig verunsichert, dass da was kommt, kam aber nichts, hat sich eine Eigendynamik entwickelt, und dann plötzlich geht das außer Kontrolle."

    Gunter A. Pilz will das keinesfalls als Rechtfertigung für die Täter verstanden wissen, sondern als Hinweis darauf, wie zukünftig solche Gewalttaten verhindert werden können. Zum Beispiel durch den Einsatz von Polizisten aus anderen Ländern vor deutschen Stadien, wie er für die kommende Weltmeisterschaft geplant ist. Ins Stadion könne man bei der WM bedenkenlos gehen, so der Fanforscher. Denn die nationalen und internationalen Fußballverbände hätten nicht zuletzt aus der Katastrophe im Heysel-Stadion vor 21 Jahren gelernt.

    Figgemeier: "Wer diese schrecklichen Szenen miterlebt hat, der wird sie nicht vergessen, der wird sich auf den Fußball nicht freuen können, der eigentlich das geplante Hauptereignis dieses Abends war.

    Ich darf Sie bitten, Verständnis für unsere Entscheidung zu haben: Wir werden dieses Spiel nicht live übertragen, weil wir die Entscheidung der UEFA nicht mittragen können. Ich glaube, es ist eine richtige Entscheidung. Bitte sie um ihr Verständnis. Ich jedenfalls - und ich vermute: Sie auch - mir steht im Moment der Sinn nicht nach Fußball."