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Aus Sicht der Opfer

Die Romane des Franzosen Antoine Volodine gelten als düster und pessimistisch – auch deshalb, weil er die Perspektive der Opfer in den Vordergrund stellt. Sein nun auf Deutsch vorliegendes Buch "Dondog" ist eine Art postapokalyptisches Kammerspiel. Es geht um die Unbelehrbarkeit der Menschen und ihre Bereitschaft zu Hass und Mord.

Von Christoph Vormweg | 10.03.2006
    Ein Mann namens Dondog stolpert durch die zugemüllten Korridore eines halb abgebrannten Wohnblocks. Nach Jahrzehnten hat man ihn aus dem Arbeitslager entlassen. In der Gewissheit, bald sterben zu müssen, treibt ihn nur noch ein Wunsch: der nach Rache an seinen größten Feinden. Dafür aber muss er die Schamanin Jessie Loo finden, die in dem Wohnblock leben soll. Nur sie kann ihm den Weg zu seinen Opfern weisen.

    "Dondog hat dank seines Gedächtnisschwunds überlebt, dank seiner Weigerung, sich an das Grauen zu erinnern. Die Haft, so düster sie auch gewesen sein mag, wurde für ihn so zur Normalität. Die traumatischsten Ereignisse der Vergangenheit drangen nur noch auf Umwegen in sein Bewusstsein, über Träume. Und genau das mache ich beim Schreiben: Ich tauche meine Hände nicht in Blut; ich nähere mich auf Umwegen, ich suche den metaphorischen Zugang."

    Kaum einer wird sich noch an Antoine Volodines schmalen Roman "Alto solo" erinnern, der 1992 – als bisher einziger - auf Deutsch erschien. Auch in ihm hatte der mittlerweile 55-Jährige eine düstere Parallelwelt entworfen, in der die totalitären Auswüchse des 20. Jahrhunderts verfremdet und zugleich hoch verdichtet aufschienen. "Alto solo" war Antoine Volodines 6. Buch, "Dondog" ist sein 14. Warum aber, fragt man sich, diese große Lücke bei einem literarisch so versierten Autor, der in den renommiertesten Pariser Verlagen erschienen ist: bei Minuit, Gallimard und Seuil? Hängt es mit dem 1998 von Martin Walser in seiner berüchtigten Friedenspreisrede beschriebenen Überdruss gegenüber der "Dauerpräsentation unserer Schande" zusammen? Oder damit, dass in den letzten 20 Jahren mit französischer Literatur – von Michel Houellebecq einmal abgesehen – nur wenig Geld zu verdienen war? In jedem Fall: Schwer verkäuflich sind Antoine Volodines Romane auch in Frankreich. Sie gelten als zu atypisch, zu düster, zu pessimistisch – auch deshalb, weil er die Perspektive der Opfer in den Vordergrund stellt:

    "Ich bin nicht masochistisch. Ich habe kein Vergnügen daran, mit dem Grauenerregenden in Berührung zu kommen. Wenn ich in solche Erinnerungen abtauche, dann weil sie mir weitergegeben wurden. Zwar habe ich die Lager selbst nicht erlebt, aber ich kenne viele, die dort eingesperrt waren oder dort ihre Freunde verloren haben. Ich habe also eine ganz natürliche Verbindung zur Lagerwelt des 20. Jahrhunderts in seiner tragischen Dimension. Die nackte Gewalt, die Vergewaltigungen, Folterungen und Massaker, an die sich meine Figuren erinnern, beschreibe ich aber immer nur indirekt."

    Im Grunde ist der Roman "Dondog" eine Art postapokalyptisches Kammerspiel. Denn bis auf das dramatische Ende, das hier nicht verraten sei, bleibt der Protagonist in dem stinkenden Häuserblock, bei drückender Hitze, umringt von Kakerlaken und Ratten. Die Zeit scheint zu stehen. Das Leben wütet nur noch in Dondogs verwirrtem Kopf. Immer wieder drängen Bruchstücke von Erinnertem an die Oberfläche seines Bewusstseins. Manche weiten sich zu Geschichten aus, ohne dass sich Reales von Halluziniertem unterscheiden ließe. So entstehen immer wieder desillusionierende Szenarien über die Unbelehrbarkeit der meisten Menschen, über ihre Bereitschaft zu Hass und Mord: etwa, als der heranwachsende Dondog - nachts auf einem Frachtkahn versteckt – das für ihn nicht sichtbare, aber hörbare Massaker an der Minderheit der Ybüren verfolgt, dem auch seine Eltern zum Opfer fallen. Das Gemetzel spielt sich hinter einer Nebelwand in den Straßen der nahen Stadt ab. Und die Angst, entdeckt und selbst niedergemacht zu werden, wächst mit jeder Minute. Durch Antoine Volodines erzählerische Geduld und Detailschärfe erfahren wir die traumatische Erfahrung des Kindes gleichsam in Zeitlupe.

    "Meine Erzählung funktioniert über Bilder. Bilder weiterzugeben, gehört zu meinen künstlerischen Zielen, weit mehr als Anekdoten oder Reflexionen: starke Bilder, in die der Leser buchstäblich eintreten kann. Und natürlich habe ich die Hoffnung, dass ihm diese Bilder in Erinnerung bleiben, dass sie Teil seines eigenen Gedächtnisses werden."

    Um nicht, wie schon so oft, der Science-Fiction-Literatur zugeordnet zu werden, hat Antoine Volodine seine Literatur als postexotisch bezeichnet. So düster und beklemmend sie aber auch wirkt: sie birgt einen ganz eigenen Humor, einen, so Volodine, "Humor des Desasters". Zum Beispiel, als Dondog zu seinem Monolog anhebt und an die Zeit nach der Weltrevolution erinnert:

    "Als sich das Lagersystem über die ganze Welt ausgebreitet hatte, wurden wir nicht länger von Fluchtgedanken gequält. Die Existenz einer Außenwelt wurde undenkbar. Selbst die unstetesten Schaben hörten auf, von ihr zu träumen; Fluchtversuche wurden nur widerwillig, in Augenblicken geistiger Verwirrung unternommen, sie führten nie irgendwohin. Nach und nach verstrichen die Jahre, zweifellos jedes ein wenig anders, aber ich erinnere mich nicht, worin genau sie sich unterschieden. Der Stacheldraht verrostete, die Absperrungen blieben nun geöffnet, die Wachtürme verfielen. Verlegungen wurden ohne Bewachung durchgeführt. Wer auf Neues erpicht war, dem konnte höchstens der Tod noch echte Zukunftsaussichten eröffnen."

    Es ist die Unberechenbarkeit, die Antoine Volodines postexotische Romane zu Leseabenteuern macht. Seine Parallelwelten gleichen Traumwelten, die den Bezug zur historischen Realität aber nie verlieren. Gerade in ihrem Anspielungsreichtum liegt das Irritationspotential seiner nüchtern zupackenden Prosa. Mittlerweile erregen Antoine Volodines Parallelwelten, die mit der "offiziellen Literatur", wie er sie nennt, nichts gemein haben, übrigens auch in akademischen Kreisen Aufsehen. So hat ihm die amerikanische Zeitschrift für Theorie und Literaturkritik "Substance" ein eigenes Heft gewidmet. Für deutsche Leser von besonderem Interesse dürfte aber vor allem sein Roman "Einige Einzelheiten über die Seele der Fälscher" sein. Der nämlich thematisiert auf höchst verstörende Weise das Phänomen des 70er-Jahre-Terrorismus im westlichen Deutschland. 1990 in Frankreich erschienen, liegt der Roman sogar schon übersetzt vor. Doch wurde er 1992 aus unerfindlichen Gründen vom Rotbuch Verlag nicht veröffentlicht.