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Aus tiefem Wissen um die Nichtigkeit des Tuns

Heimat und Identität sind Begriffe, die der 1925 in Beirut geborenen Malerin und Schriftstellerin Etel Adnan nichts mehr bedeuten. Sie ist eine der kosmopolitischsten Persönlichkeiten der arabischen Kultur. Noch immer pendelt die 83-Jährige beständig zwischen San Francisco, Paris und Beirut. Den fortwährenden Wechsel vollzieht sie als radikale Einzelgängerin. Im Suhrkamp Verlag erschien jetzt ihr Erzählband "Der Herr der Finsternis".

Von Sigrid Brinkmann | 26.02.2009
    Etel Adnan ist in einem Alter, in dem früheste Erinnerungen, wie sie sagt, eine "beängstigende Schärfe" erlangen. In ihrem neuen Band ruft sie das Verlangen nach "Gefühlen riskanter Flüchtigkeit" wach. Sie lenkt den Blick auf Situationen, in denen sie selbst "am Rand der Welt" stand und einen Aufbruch "bei schlappem Wind" wagte. Sie erfindet dramatische Momente, in denen einer einem anderen die Stirn bietet und nichts den Schwall eines großen Monologs eindämmen kann. Sie blickt auf ihr nomadenhaftes Dasein und lässt uns verstehen, warum so viele Libanesen in Beirut sterben, um "in New York wieder aufzuerstehen". Dass sie - einzige Tochter eines griechisch-syrischen Paares und christlich erzogen - erst in den Vereinigten Staaten zur Araberin geworden ist, hat Etel Adnan stets betont. Ihre Geschichten spielen in Kalifornien, New York und Paris, Beirut und Damaskus, in Süditalien und England. In der Geschichte "Hör zu Hassan" schlüpft sie einem amerikanischen Geldfälscher unter die Haut, der in Damaskus seiner Verhaftung entgegensieht. Der Betrüger wird irre an der brennenden Sonne des Orients und schleudert einem Hehler Worte entgegen, die in der Stille verhallen.

    "Du bist wie alle Araber. Sie scheinen ausdrucksvolle Augen zu haben, aber es ist nichts darin, was ich lesen kann. Es könnte sein, dass sie nur unsere eigenen Illusionen ausdrücken. Vielleicht seid ihr ein Volk in Betrachtung des Nichts."

    Geschickt versteht Adnan es, Menschen zu spiegeln. Der fremde Andere verführt zum Reden, zur Selbstentblößung, die versöhnen will. Kernstück des Bandes ist die Titelerzählung "Der Herr der Finsternis". Etel Adnan modelliert gewissermaßen die Totenmaske des irakischen Dichters Buland al-Haidari, der zu den Neueren der modernen arabischen Lyrik zählt. Von 1982 bis zu seinem Tod im Jahr 1996 lebte Al-Haidari im Londoner Exil. Adnan schildert den Auftritt des Lyrikers bei einem Poesiefestival in Süditalien zur Zeit des zweiten Golfkrieges.

    "Er gestand, dass er sich als Toter am lebendigsten fühle. Er fügte hinzu, Engel erschienen regelmäßig und schalteten Neonröhren über Gefängnishöfen ein, um die heimlichen Muster aufzuzeichnen, die Insekten machen, wenn sie nachts dort drinnen tanzen. Er wurde immer mehr zu einem Mann, der aus dem All zurückgekehrt ist und, um sich neu zu orientieren, festen Boden unter die Füße zu bekommen sucht."

    Buland al-Haidari war Kurde. Der Vater misshandelte ihn als Kind so sehr, dass er nach Bagdad floh und fortan auf den Straßen lebte. Al-Haidari wurde Kommunist, und später sollte er sich "die Augen ausweinen" für seine einstige Liebe zu Saddam. Von London aus schrieb er gegen das Regime des Tyrannen. Etel Adnan, die den Dichter seit den 70er Jahren kannte, erlebte ihn als einen "kartographisch nicht erfassten Vulkan". Zehn Jahre nach Al-Haidaris Tod erinnert sie sich an die Kraft des im Exil Gestorbenen. Der Irak brannte schon drei Jahre, und eine Frage umtreibt sie immer wieder. "Wer versucht da die Vergangenheit und die Gegenwart der Araber auszulöschen?"

    "Freunde von mir sagen: Du interessierst dich mehr für Steine und Bücher als für Menschen. Ich antworte ihnen: Nein, die Bücher sind für Menschen gedacht. Man isst sie nicht. Sie sind ein Gedächtnis, ein Erbe an sich und für uns alle. Die Bibliothek und das Museum von Bagdad, die archäologischen Stätten zu zerstören - ich finde das noch schlimmer als Menschen im Krieg zu verlieren. Künftige Kinder werden an einem sterilen Ort aufwachsen. Man kann sich nicht darüber hinwegtrösten. Diesen Kummer werden wir nicht los. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen der Zerstörung von Bagdad und der von Beirut."

    Die geschichtlichen Zeugnisse eines Landes zu vernichten, heißt für Etel Adnan, nachfolgenden Generationen jeglichen Halt zu nehmen. Sie selbst ist froh darüber, noch einmal für ein paar Jahre in ihrer Geburtsstadt Beirut vor der 1975 begonnenen Zerstörung gelebt zu haben. Um die in früher Kindheit erfahrene Hilflosigkeit angesichts einer elementaren Gewalt kreist die Erzählung "Ein Fluss bei Damaskus". "In den syrischen Dörfern", zitiert Adnan einen Poeten, "verdurstet die Seele neben einer Quelle".

    "Als ich acht, neun Jahre alt war, fuhren wir nach Syrien. Mein Onkel besaß Land ganz in der Nähe von Damaskus. Direkt an seinem Haus, das aus Lehm gebaut und nur einstöckig war, führte ein Fluss vorbei. Und weiter weg strömte der Barada. Der Fluss - in Europa würde man ihn Wildwasser nennen - war wegen der Schneeschmelze unglaublich angestiegen. Selbst die Bäume dämmten sein Rauschen nicht. Es war beeindruckend. Eines Tages, während wir auf der Erde saßen und aßen, rief mein Onkel: Ein junger Mann ist ertrunken! Der Strom hat ihn fortgerissen. Es hat mich zutiefst erschüttert. Vielleicht lasse ich in meiner Geschichte einen jungen Mann ein halbertrunkenes Mädchen wiederbeleben, weil ich als Kind so sehr wünschte, dass sein Tod nicht wahr sei und er ins Leben zurück käme. "

    Literatur vermag genau das: Leben nachträglich zu retten, seine Gestalt poetisch zu überhöhen und schärfer zu zeichnen; ihm einen Platz im großen Ganzen zu geben. Der unsentimentale Gestus der Malerin und Schriftstellerin Etel Adnan ist einzigartig. Er speist sich aus einem, wie sie schreibt, tieferen Wissen um die Nichtigkeit unseres Tuns. Ihre Sehnsucht danach, nicht mehr zu sein als ein Augenpaar, das wohlwollend beobachtet, bleibt unerfüllt. Denn auf den Straßen in Paris spürt sie, wie ein Sandsturm in der Sahara ihr Körner in die Augen schleudert, und in ihrem Zimmer hört sie die Stimme eines politischen Gefangenen in Syrien, der um ihre Aufmerksamkeit bittet. Sie kann ihm kein Wasser reichen, aber ihre inneren Regungen mit Reflexionen verknüpfen und diese notieren. In ihrem neuen Erzählband macht Etel Adnan uns mit Personen bekannt, die sich ihrem Gedächtnis eingeprägt haben, und sie konfrontiert uns mit Orten, an denen "alle Banalitäten sterben".

    Etel Adnan: "Der Herr der Finsternis".
    Erzählungen. Deutsch von Christel Dormagen, Suhrkamp Verlag 2009, 171 Seiten