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Auseinandersetzung mit dem Land seiner Geburt

"Fünf Deutschland und ein Leben" heißt der Memoirenband, der die Lebensgeschichte des vielfach ausgezeichneten amerikanische Historiker Fritz Stern synchronisiert mit dem Verlauf der politischen Geschichte. Geboren 1926 in Breslau, beschreibt er seine politischen Erinnerungen: Nazis in den Badeorten an der Nordsee, Drangsalierung durch rechtsradikale Mitschüler und Lehrer auf dem Gymnasium und die Emigration in die USA.

Von Wolfgang Stenke | 29.11.2007
    "Die erste bewusste politische Erinnerung war, glaube ich, 1931 an der Nordsee. (...) Ferien - um zum Strand zu kommen, stand da ein SA-Mann in Uniform und verkaufte Zeitungen. Strahlte er Gewalt aus? - Dass das wahrscheinlich schon von meinen Eltern prädeterminiert war, dass ich das als Angst empfinde oder als unangenehm. Und dann ganz bestimmt im Jahre 32, wieder an der See, wieder Ferien, die Sandburgen, die mit Flaggen - jeder hatte seine eigene Sandburg, sozusagen, die meisten hatten eine Flagge mit dem Hakenkreuz oder die deutschnationale Flagge oder die vernünftige schwarzrotgoldene Flagge."

    Der amerikanische Historiker Fritz Stern, geboren 1926 in Breslau, beschreibt seine frühen politischen Erinnerungen. Nazis in den Badeorten an der Nordsee, Drangsalierung durch rechtsradikale Mitschüler und Lehrer auf dem Gymnasium, Reminiszenzen an das jüdische bildungsbürgerliche Milieu des Elternhauses und an die Emigration in die USA. - "Fünf Deutschland und ein Leben" heißt der Memoirenband, der die Lebensgeschichte eines prominenten und vielfach ausgezeichneten Gelehrten synchronisiert mit dem Verlauf der politischen Geschichte der vergangenen acht Jahrzehnte. "Five Germanies I've known" im amerikanischen Original - und mehr als das. Sterns Buch umfasst zugleich Exkurse in die faszinierend dargestellte Sozialgeschichte eines sechsten Deutschlands, das ohne die Hybris eines radikalen Nationalismus zur Vormacht Europas hätte werden können: des wilhelminischen Kaiserreichs. Ein Land, zu dessen wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen assimilierte jüdische Familien wie die Sterns in hervorragender Weise beigetragen haben. Doch diese erste Chance verspielten die Deutschen 1914. Ihre zweite Chance bekamen sie erst acht Jahrzehnte später: nach dem Zweiten, wiederum verlorenen Weltkrieg, nach dem Holocaust, nach der Teilung des Landes durch die Siegermächte. Fritz Stern hat weite Strecken dieser Geschichte erlebt, als Wissenschaftler erforscht und als politischer Berater und interessierter Zeitgenosse begleitet. Sein Memoirenband "Fünf Deutschland und ein Leben" ist die Bilanz dieses Prozesses. Er summiert politische und kulturelle Erfahrungen, die ihre frühen Wurzeln in Breslau haben.

    "Die Familie war auch assimiliert in dem Sinne, dass die väterlichen Großväter konvertierten zum Protestantismus. Mutter und Vater waren getauft bei Geburt, ebenso wie ich. War es ein jüdisches Bildungsbürgertum? (...) Ich würde eher sagen, (...) es war ein Teil des deutschen Bildungsbürgertums (...), mit der Besonderheit, dass es außerdem vom Judentum abstammt. Ich kann nur sagen, mit welcher Begeisterung und Freude Deutsche, die jüdischer Abstammung waren - oder die Juden waren, mit Moses Mendelssohn angefangen - sich für deutsche Philosophie und deutsche Kultur begeistert haben und da zu Hause gefühlt haben. Und möglicherweise haben sie's - ich sag das jetzt etwas skeptisch, ironisch - vielleicht haben sie's auch etwas übertrieben, die Liebe. (....) Bücher, Musik, das waren geistige Güter von ungeheurer Wichtigkeit."

    Die historischen Quellen für die Darstellung dieser Welt, die von den Nationalsozialisten unwiederbringlich zerstört worden ist, fand Fritz Stern in Büchern, Briefen und Papieren einer liberalen Arztfamilie, seiner Familie, deren Oberhaupt 1915 als junger Mediziner mit patriotischer Begeisterung freiwillig in den Ersten Weltkrieg zog.

    "Ich hatte das Glück, als ich dieses Buch anfing, (...) dass ich mir bewußt war, dass da Pakete, auf Englisch: boxes, da waren, dass Briefe da waren (...) und hab das alles ausgepackt. Es war mir klar, dass die Eltern es aus Breslau mitgenommen haben als wir 1938 auswanderten, auswandern mussten. Da ergab sich dieser Schatz für einen Historiker."

    Briefe des Vaters von der Westfront an seine Freundin und spätere Ehefrau, Korrespondenz mit Fritz Sterns Patenonkel, dem Chemie-Nobelpreisträger Fritz Haber - und auch Kopien der Briefe, die Stern bis 1941, bis zum Angriff auf Pearl Harbor, an die in Deutschland zurückgebliebenen Verwandten schrieb. Durchschläge, getippt auf einer Reiseschreibmaschine, die Stern schon 1932 als Kind geschenkt bekam, da er sich die Hand gebrochen hatte. Dank dieser Schreibmaschine ist auch die politische Sozialisation des jungen Fritz Stern in den USA dokumentiert: In Eingaben an Politiker äußerte sich der Schüler zur politischen Lage.

    "Amerika war in den Jahren 38/39, auch noch 40, ein im politischen Sinne geteiltes Land, wo es die sog. Isolationisten gab, die ganz überzeugt waren, dass unter keinen Umständen Amerika sich engagieren sollte, sondern sich raushalten sollte aus der europäischen Katastrophe, dann auch aus dem europäischen Krieg 1939. Und ich, selbstverständlich, war überzeugt davon, dass Amerika, das damals einen wunderbaren Präsidenten hatte, Franklin Roosevelt - die ganze politische Atmosphäre, das müssen Sie sich vorstellen: Man kommt aus einem Nazideutschland und plötzlich sieht man eine Demokratie, ich wollte gerade sagen: eine blühende Demokratie, das wär zu viel gesagt, aber eine Demokratie, die durch einen Präsidenten, die durch einen Chef, trotz einer ebenso schweren Wirtschaftskrise durchgegangen ist wie Deutschland 1932, sich nicht nur an die Demokratie geklammert hat, sondern (...) einen demokratischen Staat benutzt haben, um die Wirtschaftskrise zu überwinden. (...) 1940 war ein Wahljahr und ich gebe ohne weiteres zu, dass ich schon in dem Jahr in meiner Schule in einer großen Debatte zwischen den beiden Kandidaten, also Roosevelt usw., war ich der Sprecher für Roosevelt. (...) Ja, ich hab mich dann beteiligt."

    Dass dieser Heranwachsende das Studium der Geschichte wählen würde, war damals noch nicht ausgemacht. Der mit der Familie befreundete Albert Einstein riet zur Medizin. Doch trotz "lebenslanger Hochachtung vor dem weißen Kittel" wurde nichts daraus. Fritz Stern folgte seinem Instinkt und entschied sich nach der Highschool für die Geschichte, die - Zitat - "schließlich auch eine Wissenschaft ist."

    Als Historiker hat Stern sich schon früh mit dem Land seiner Geburt befasst. In der Studie "Kulturpessimismus als politische Gefahr" analysierte er die antimoderne und antidemokratische Ideologie einflussreicher Denker aus den Reihen der deutschen Rechten. Mit "Gold und Eisen", der Biographie von Bismarcks jüdischem Bankier Gerson Bleichröder, lieferte der Historiker sein Meisterstück ab. Zugleich profilierte sich der Gelehrte von der Columbia-University in zahlreichen Essays als politischer Intellektueller und wurde ein gefragter Deutschland-Experte. Schließlich hat Stern in den acht Jahrzehnten seines Lebens dieses Land in den unterschiedlichsten Staatsformen und politischen Aggregatzuständen erfahren: die Republik von Weimar, das Dritte Reich, die demokratische - in Klammern - "rheinische" Bundesrepublik, die DDR - und nach dem Wendejahr 1989 - das vereinte Deutschland. Immer beschrieben und analysiert von der Warte eines in den USA politisch sozialisierten Liberalen, der ab den 1960er Jahren - Stichwort Fischer-Kontroverse um die Frage der deutschen Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg - teilnahm an den Leitdebatten der politischen Klasse in der Bundesrepublik. So hat er den Deutschen ihre wechselvolle Geschichte erklärt - und interessierten Amerikanern Interpretationshilfen geliefert für das Verständnis eines rätselhaften Landes in Europa. Eine Aufgabe, die Fritz Stern angesichts seiner Familiengeschichte nicht leichtgefallen ist:

    "Mit den Bildern aus Bergen-Belsen, ich glaube, das waren die eindrucksvollsten, die gleich aus den KZs - die Toten, die beinahe Toten, ich glaube, das ist unvergesslich. Und dass da der Haß, der schon vorher existierte, noch weiterging, ist offensichtlich. Ich bin 1950 zum erstenmal zurück nach Europa gekommen, um meine Studien, meine Dissertation, zu betreiben. (...) Als ich über die Grenze kam, wurde es mir nicht besonders wohl. Ich fühlte mich unangenehm berührt, um es milde auszudrücken."

    Aber da war auch die Erinnerung an die wenigen Gerechten unter den Deutschen. Schlüsselerlebnis: eine Gedenkfeier im Berliner Berliner Bendler-Block, dem Zentrum der Militäropposition gegen Hitler:

    "Das wirklich erschütternde Erlebnis für mich, (...) , war der 20. Juli 1954, wo ich (...) mich einschleichen konnte in den Bendler-Block, wo zum erstenmal Adenauer und ein alter Freund der Familie, ein Sozialdemokrat, Hermann Lüdemann, war der Hauptredner des Gedächtnisses an die Männer und Frauen, die am 20. Juli den Versuch gemacht hatten, Hitler zu ermorden, selbst ermordet wurden. Da hat sich etwas in mir geändert, als ich in die Gesichter der Witwen und der kleinen Kinder gesehen hab', die übriggeblieben sind, deren Väter, Brüder, was weiß ich, ermordet worden sind, gefoltert worden sind. Das hat einen sehr, sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht, das hat meine Meinung geändert."

    Gleichwohl ist Sterns Blick auf die deutsche Geschichte ein kritischer geblieben. Aus ihrem Verlauf hat der Gelehrte auch die Kategorien entwickelt, mit denen er gegen die imperiale Überhebung der USA argumentiert: Nixon oder George W. Bush erinnern ihn an die Großmannssucht Wilhelms II. Solche Parallelen nimmt der Leser von Sterns Memoirenband mit Gewinn zur Kenntnis. Es soll allerdings nicht verschwiegen werden, dass der vielgefragte und umworbene Historiker gelegentlich der Versuchung des "name droppings" unterliegt. Begegnungen mit den Christdemokraten Helmut Kohl und Kurt Biedenkopf werden zum Beispiel wie folgt beschrieben - Zitat: "Wir führten ein beständiges Gespräch über fast alles." Jenseits solcher Trivialitäten, die sich auch in Sterns Buch finden, bleibt ein Bekenntnis festzuhalten:

    " Die junge Bundesrepublik, oder die alte junge Bundesrepublik in den 50er, 60er, 70er, 80er Jahren, war das Deutschland, das ich schließlich am besten erlebt habe. Und wo ich Freunde gefunden habe, denen ich ungeheuer dankbar bin, (...) die sich eben für eine liberale Demokratie einsetzten. Und wenn ich einen einzigen Namen nennen darf, würde ich den Namen Marion Dönhoff nennen (...). Und in dem Sinne war das das Deutschland, das ich am besten kannte und dessen Erfolg mir eine Beruhigung war (....). Und wenn ich auch nur in der kleinsten Weise da mithelfen konnte, war das für mich eine Genugtuung."