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Auseinandersetzung mit der eigenen Schüchternheit

Florian Werner nähert sich der Schüchternheit autobiografisch: Er lässt den Leser an kleinen alltäglichen Hysterien teilhaben. Dazu reichert er sein unterhaltsames Werk mit kulturwissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen an.

Von Wiebke Porombka | 04.02.2013
    Ist es eine Neurose? Gibt es ein Medikament dagegen? Handelt es sich um eine genetische Disposition oder um eine Eigenschaft, die man sich durch Erfahrungen im sozialen Miteinander, vielleicht auch durch Erziehung zulegt? Und was heißt es überhaupt: schüchtern zu sein?

    Florian Werner nähert sich diesem notgedrungen wenig schillernden Charaktermerkmal autobiografisch. "Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft" nennt sich sein Buch "Schüchtern" im Untertitel, und einmal vorausgesetzt, es handelt sich nicht um gekonnte Rollenprosa, dann ist Werner selbst dieser Bekennende. Florian Werner ist schüchtern, sehr schüchtern sogar, und er lässt uns an seiner Schüchternheit in all ihren kleinen alltäglichen Hysterien teilhaben.

    Jemanden anrufen zu müssen, ist für Werner ein Graus. Niemals hätte er sich getraut, seine Frau anzusprechen – die beiden würden sich heute noch nicht kennen, hätte nicht sie den ersten Schritt gemacht. Am liebsten trägt Werner weite Pullover, deren Kapuzen er schön weit über den Kopf ziehen kann. Möglichst so weit, dass er auf der Straße niemandem ins Gesicht blicken muss. Vollkommen undenkbar ist natürlich für einen schüchternen Menschen wie Werner auch, den Mormonen, die er eines Tages bei der Rückkehr vom Einkauf vor seiner Haustür erblickt, zu sagen, dass er es vorziehen würde, sich weder von ihnen missionieren zu lassen noch sich mit ihnen unterhalten zu müssen.

    "Natürlich konnte ich mich einfach mit einem knappen ‚Tschuldigung!’ an ihnen vorbeidrängen (sie belagerten weiterhin das Klingelschild), die Tür aufschließen, blitzschnell durch den offenen Spalt schlüpfen und die Haustür hinter mir ins Schloss ziehen. Was aber, wenn sie versuchten, mir ins Treppenhaus zu folgen? Was, wenn sie mich nach meinem Namen fragten, wenn sie wissen wollten, ob ich einen gewissen Florian Werner kenne? Ich war schwer bepackt und eigentlich spät dran – aber bevor ich mich versah, hatte ich meine Haustür schon weiträumig umgangen und meine Einkaufstüten weiter die Prenzlauer Allee hochgeschleppt."

    Wer schüchtern ist, so Werner, hat vor allem eines: Angst. Angst vor Sanktionen der Mitmenschen. Angst davor, nicht nur für eine einzelne Handlung, sondern gleich als ganze Person verurteilt zu werden. Es gibt für diese Angst keine rationale Begründung – und gerade darin liegt für Werner das Faszinationspotenzial einer Eigenschaft, die nicht recht passen will in unsere Casting-Gesellschaft, in sich der allenthalben und auf allen Kanälen Menschen den fatalsten Selbstentblößungen hingeben. Scham scheinen diese Menschen nicht zu kennen. Ganz im Gegensatz zum Schüchternen.

    Durch Werners subjektiven, emphatischen Ansatz gelingt es ihm, das Irrationale dieser Disposition genauso wie die bisweilen schrullige Lebensuntüchtigkeit des Schüchternen schlüssig zu machen, ohne dabei je zu denunzieren. Wenn Werner etwa davon erzählt, wie er sich zwingen will, nach dem Zufallsprinzip Telefonnummern zu wählen und wildfremde Menschen in Gespräche zu verwickeln, um seine Telefonphobie zu überwinden: Natürlich liegen ihm die Nerven schon blank, bevor auch nur ein einziger Kandidat sich gemeldet hat. Seine Not und sein Scheitern sind genauso wahrhaftig und verständlich wie unglaublich lustig.

    Aber natürlich ist dieses Buch nicht nur eine amüsante und bisweilen überspitzte Erzählung über die Tücken des Umgangs mit dem eigenen Über-Ich und dessen kleinen phobischen Sperenzien. Wie bereits in seinen vorherigen Büchern versteht Florian Werner sich auch darauf, ein Thema kulturwissenschaftlich und philosophisch zu unterfüttern, ohne dabei akademische Nebelkerzen werfen zu müssen. Man erfährt also von Immanuel Kants Rat, der Schüchternheit mit Desensibilisierung zu begegnen – auf heute gemünzt: wildfremde Menschen anzurufen und sie in sinnlose Gespräche zu verwickeln. Genauso wie Werner von Rousseaus Reflexionen über die Zusammenhänge von Schüchternheit und Schreiben erzählt. Rousseau selbst soll übrigens ebenfalls ein bekennender Schüchterner gewesen sein.

    Auch den Begriff der Schüchternheit und seinen sprachgeschichtlichen Wandel untersucht Werner und weiß zu berichten, dass schüchtern nicht immer ein negativ konnotiertes Attribut gewesen ist. Platon etwa sah darin die emotionale Grundlage schlechthin für tugendhaftes Verhalten.

    So angenehm und erhellend zu lesen sind Werners Ausführungen vor allem auch deshalb, weil sie von einem – wie könnte es anders sein – beständigen Selbstzweifel grundiert sind. Hier wird nicht brachial eine These durchgefochten, hier wird immer wieder hinterfragt, abgewogen und die Möglichkeit offengelassen, dass es womöglich auch ganz anders sein könnte, als gerade behauptet wurde.

    Der Schüchterne ist ein Zauderer, einer, der stets an der Schwelle verharrt. Und doch stößt Werner am Ende zumindest noch eine Tür auf und lässt den Blick über eine Schwelle hinweg gleiten, hin zu einer fiktiven Insel, einem utopischen Ort, den er "Aidotopia" nennt – in Anlehnung an das altgriechische Wort für Schamhaftigkeit. Diesen Ort, so Werner, würde er gern gegen unsere Casting-Gesellschaft eintauschen, in der funktionstüchtige Ellenbogen und ungebrochenes Selbstbewusstsein so unabdingbar scheinen.

    "Die aidoptische Nationalsportart ist Tischtennis-Rundlauf; Schmetterbälle sind allerdings verboten, und alle Teilnehmer haben unendlich viele Leben. Die aidoptische Nationalpflanze ist die Mimose, das Nationalgericht ist ein bis zur Unkenntlichkeit im Teigmantel versteckter Apfel im Schlafrock, und die Nationalhymne ist vor allem sehr leise."

    Auch wenn die letzten Seiten von Werners Buch ein wenig satirisch daherkommen: Hinter der Utopie eines schamhaften Staates steckt der sehr wohl ernste und ernst zu nehmende Wunsch nach einer Gesellschaft, in der nicht nur im kleinen, privaten Bereich Eigenschaften wie Feingefühl, Rücksicht und Bescheidenheit wieder wesentlich werden.

    Werner lässt einmal die Soziologin Susie Scott über die Schüchternheit befinden: Man könne sie auch als eine subtile, aber wirkungsvolle Form des Widerstands interpretieren. In diesem Sinne sollte man auch dieses ebenso kluge wie unterhaltsame Buch verstehen, dem nur zu wünschen ist, dass ihm ein wenig mehr Durchsetzungskraft eigen ist als der Eigenschaft, von der es erzählt. Wie der Autor mit dieser Aufmerksamkeit dann wird umgehen können, soll unser Problem nicht sein.

    Florian Werner: "Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft."
    Nagel & Kimche, Zürich 2012
    175 Seiten, 17,90 Euro