Dienstag, 16. April 2024

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Ausgangspunkt des Wettrüstens

Im Koreakrieg, sagt Rolf Steininger, habe die Welt mehrfach am atomaren Abgrund gestanden. Der Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck ist Autor der ersten deutschsprachigen Gesamtdarstellung zum Koreakrieg. Sie belegt: "Der vergessene Krieg" hat Weichen in der Weltgeschichte gestellt. Marcus Heumann stellt das Buch vor.

24.07.2006
    "Wen bringt ihr?"

    "Gefangene, Hauptmann"

    "Wer sind Sie?"

    "Leutnant Han So Wan vom 17. südkoreanischen Regiment"

    "Wo sind Sie gefangen genommen worden?"

    "Schon wieder südlich des 38. Breitengrades"

    "Nachdem Sie über den 38.Breitengrad vorgerückt waren, Sie und Ihre Leute?"

    "Ja"

    "Sie haben also angegriffen?"

    "Ja! Wir waren kommandiert dazu!"

    "Von wem?"

    "Von unserer Regierung in Seoul und den Beratern."

    "Die Berater sind?"

    "Amerikaner!""

    Eine Szene aus dem im August 1950 vom DDR-Rundfunk ausgestrahlten Hörspiel "Der 38. Breitengrad". Eine Szene, die eine Propagandalüge ist, kolportiert sie doch die Legende vom US-amerikanischen Angriffskrieg gegen Nordkorea, bis zum Ende der Sowjetunion die offizielle kommunistische Lesart der Ereignisse. Im letzten stalinistischen Staat der Welt, dem bizarren nordkoreanischen Regime Kim Jong Ils, ist sie es bis heute geblieben.

    ""Es ist in der Tat eine Legende. Wir wissen inzwischen auf Grund neuer Quellen aus Moskau, aus Peking hundertprozentig, wie die Dinge zustande gekommen sind, wer verantwortlich ist: ohne Stalin kein Koreakrieg","

    sagt Rolf Steininger, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck und Autor der ersten deutschsprachigen Gesamtdarstellung zum Koreakrieg, die jetzt unter dem Titel "Der vergessene Krieg" erschienen ist. Vergessen, aber bestimmend für die weitere Nachkriegszeit:

    ""Im Konflikt Korea stand die Welt in der Tat zwei-, dreimal haarscharf am Rand des atomaren Abgrunds. Das weiß ja niemand, aber so war es."

    1910 war Korea von Japan annektiert und seitdem als Kolonie rücksichtslos ausgebeutet worden. Zur Entwaffnung der besiegten Japaner teilten die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges das Land im August 1945 provisorisch in einen sowjetisch besetzten Teil im Norden und einen amerikanisch besetzten im Süden – entlang des 38. Breitengrades. Was dann geschah, weist gespenstische Parallelen zur Entwicklung in Europa und im geteilten Deutschland auf: Im Zuge des eskalierenden Kalten Krieges halten die jeweiligen Siegermächte in Nord- und Südkorea getrennte Wahlen ab, etablieren ihnen hörige Regierungen, rüsten ihre Teilstaaten auf und bezichtigen die Gegenseite, eine Wiedervereinigung zu boykottieren. 1948/49 ziehen Rote Armee und US-Army aus Korea ab, zurück bleibt ein geteiltes, bettelarmes, politisch instabiles Land. Seine Führer, der Kommunist Kim Il Sung im Norden und der rechtsautoritäre Singh Man Rhee im Süden, versuchen nun, ihren Protektoren in Moskau beziehungsweise Washington einen Einmarsch in den jeweils anderen Teil zwecks Wiedervereinigung schmackhaft zu machen.

    Im Februar 1950 schließlich stimmt Stalin einem so genannten Präventivschlag gegen Südkorea zu, und trifft zugleich Vorkehrungen, um seine Täterschaft zu vernebeln: Kim Il Sung macht er unmissverständlich klar, dass er keinen Finger rühren werde, sollten die Amerikaner Nordkoreas Truppen niedermachen. Kim müsse dann Mao um Hilfe bitten. Und das Telegramm, mit dem Stalin am 10. Juni Kim Il Sung endgültig grünes Licht für den Sturm gen Süden gibt, trägt vorsorglich nur die Unterschrift des stellvertretenden sowjetischen Außenministers:

    Steininger. "Ich meine, man muss sich mal vorstellen: Der sowjetische Diktator gibt Anweisung, sein Telegramm mit anderem Namen, sprich Gromyko, zu unterschreiben, damit er nicht irgendwann mal vor das Weltgericht der Geschichte gezogen wird."

    Noch am Tag der Invasion, dem 25. Juni 1950, beschließen die USA, in Korea einzugreifen. Nachdem Seoul schon an die Kommunisten gefallen ist, landen US-Bodentruppen in Südkorea. Offiziell läuft die Aktion unter der Flagge der Vereinten Nationen, die zu diesem Zeitpunkt ganz überwiegend amerikahörig sind. Zum Oberbefehlshaber wird der damals einzige US-Fünfsterne-General Douglas MacArthur ernannt, seit 1945 amerikanischer Statthalter in Japan. US-Präsident Harry S. Truman macht seinen Landsleuten im Rundfunk klar, worum es in Korea geht:

    "Auf dem Spiel steht die freie Art zu leben, das Recht, unsere Meinung auszudrücken, unsere Kinder auf unsere Weise großzuziehen, unsere Arbeit zu wählen, das Recht, unsere Zukunft zu planen und ohne Angst zu leben. Wir können nicht hoffen, unsere Freiheit zu behalten, wenn sie anderswo ausgelöscht wird."

    Tatsächlich gelingt Mac Arthur die Blockade der nordkoreanischen Nachschubwege, Seoul wird befreit, die kommunistischen Truppen zurückgetrieben. Am 15. September stehen die UN-Truppen am 38. Breitengrad. Nun wird für Washington die vorher nie bedachte Frage akut, ob man die Demarkationslinie überschreiten und mit einem Sturz Kim Il Sungs für ein Ende der Teilung sorgen soll. Eine Entscheidung darüber hängt wesentlich von der vermuteten Reaktion Rotchinas und der Sowjetunion ab, letztere seit 1949 Atommacht. Würde Sie eine direkte militärische Konfrontation mit US-Truppen, gar einen Atomkrieg wegen Korea riskieren?

    Steininger: "Der Fehler der USA war, dass man geglaubt hat, dass dies ein globaler Angriff des Kommunismus war, also: heute Korea, morgen Vietnam, Philippinen und dann Europa. So kühn war der Stalin gar nicht. Der Fehler aus meiner Sicht war, nachdem man die Kommunisten zurückgeschlagen hatte und weit und breit kein Widerstand mehr da war, die Überschreitung des 38. Breitengrades - zum ersten Mal die Befreiung eines kommunistischen Landes, basierend auf - und das ist wohl die größte Fehleinschätzung der CIA, die davon ausgingen, dass China nicht eingreifen wird - 1950."

    Anfang Oktober überschreiten MacArthurs Truppen den 38. Breitengrad Richtung Norden. Ein UN-Mandat besorgt man sich für diese Aktion erst im Nachhinein. Pjöngjang wird erobert. MacArthur gibt siegesgewiss die Parole "Home for Christmas" für seine Soldaten aus, die Ende November am Yalu, dem Grenzfluss zur Mandschurei stehen. Doch kaum hat der General die Endoffensive befohlen, erleben seine Truppen ein Fiasko, das Steininger als schwerste militärische Niederlage in der Geschichte der USA charakterisiert: Sie werden von Hunderttausenden chinesischen "Freiwilligen" überrollt – denn auch Mao will sich offiziell heraushalten - massakriert oder gen Süden zurückgetrieben.

    In Washington und der gesamten westlichen Welt bricht Panik aus. Es kommt zu Hamsterkäufen. Die Angst vor einem dritten Weltkrieg liegt in der Luft, besonders im geteilten Deutschland. Im Weißen Haus wird der forcierte Aufbau einer europäischen Verteidigungslinie gegen die kommunistische Bedrohung beschlossen – eine Steilvorlage für Bundeskanzler Adenauer:

    "Die Bundesregierung ist der Auffassung, dass die Bundesrepublik Deutschland, wenn sie von den westlichen Mächten dazu aufgefordert wird, bereit sein muss, einen angemessenen Beitrag zu dem Aufbau dieser Abwehrfront zu leisten, um ihren Fortbestand, die Freiheit ihrer Bewohner und die Weitergeltung der westlichen Kulturideale zu sichern."

    Steininger: "Mit dem Koreakrieg, der apokalyptische Ängste auch bei den Amerikanern auslöste, hat er diese Chance genutzt, und die Grundsatzentscheidung der Westmächte für die Wiederbewaffnung fällt am 18. Dezember 1950. Es wäre niemals geschehen, wären die Amerikaner nicht in Korea in eine katastrophale Lage geraten. Zum ersten und bislang einzigen Mal in der Geschichte der USA ruft Präsident Truman am 16. Dezember den nationalen Notstand aus - das hat es vorher nicht gegeben und auch nachher nie wieder!"

    Die Vereinigten Staaten vervierfachen ihr Militärbudget binnen eines Jahres von 13,5 auf 52 Milliarden Dollar, erhöhen die Zahl ihrer Streitkräfte um zirka 1 Million auf 3,5 Millionen Mann und verstärkten ihre Truppenkontingente in Westeuropa erheblich. Die Lage in Korea bleibt indes unverändert ernst: Im Dezember 1950 erobern die Chinesen Pjöngjang zurück, am 4. Januar 1951 fällt Seoul zum zweiten Mal an die kommunistischen Truppen. Ein Schwarm Gänse über Alaska, der auf dem US-Radar als Formation russischer Flugzeuge gedeutet wird, führt beinahe zu einem atomaren Erstschlag der Amerikaner gegen die Sowjetunion.

    In Korea empfiehlt Mac Arthur unterdessen angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Kommunisten Atombombenschläge gegen China oder doch wenigstens die atomare Verseuchung des mandschurischen Grenzgebietes. Obwohl am 14. März UN-Truppen Seoul zum zweiten Mal zurückerobern, wird der ebenso selbstherrliche wie unberechenbare Mac Arthur von Truman im April 1951 entlassen. Unter dem Kommando von General Ridgeways wird Südkorea ein weiteres Mal befreit, die UN-Einheiten stehen nun wieder am 38. Breitengrad. Hier erstarrt der Krieg zum Stellungskrieg. Waffenstillstandsverhandlungen führen erst nach zwei Jahren - im Juli 1953 – zum Erfolg.

    "Wir wissen heute - das haben wir auch nicht gewusst: Warum zögern sich diese Waffenstillstandsverhandlungen zwei Jahre hin? -Stalin wollte das. Der wollte die Amerikaner verbluten lassen in Korea. 'Das macht nichts’, war seine Antwort an Mao ,'das einzige, was wir verlieren, sind Menschen - und da haben wir genug von'"

    Anstelle eines Schlusswortes subsumiert Rolf Steininger am Ende seines gut lesbaren und reich bebilderten Buches die weltweiten Folgen des Koreakrieges. Etwa 3,5 Millionen Koreaner ließen in ihm ihr Leben, etwa 1 Million Chinesen und rund 37.000 US-Soldaten. Dieser Krieg war Ausgangspunkt des Wettrüstens zwischen Ost und West, beschleunigte die deutsche Wiederbewaffnung, und er war der erste Stellvertreterkrieg zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion. Die heutige Welt, das zeigt Steininger mit seiner auf dem neuesten Quellenstand befindlichen Darstellung, wäre ohne diesen "vergessenen Krieg" eine andere.

    Rolf Steininger: Der vergessene Krieg. Korea 1950-53.
    Olzog Verlag, München 2006, 249 Seiten
    24,90 Euro