Freitag, 29. März 2024

Archiv


Ausgerechnet Deutschland!

Die jüdische Migrationswelle der 90er-Jahre aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion führte, auch wenn sie zahlenmäßig klein gewesen ist, zu einer Zäsur im jüdischen Leben der Bundesrepublik.

Von Jochanan Shelliem | 15.03.2010
    Es hat etwas von Alphabetisierung. Bisher schritten die Ausstellungen des Jüdischen Museums im Frankfurter Rothschildpalais oft statuarisch einher, betonten schlichtend den gemeinsamen ästhetischen Diskurs oder sie beschränkten sich pittoresk auf den Umgang jüdischer und nicht-jüdischer Zeitgenossen mit dem Gebot Kosher zu essen, wobei die kritische Darstellung der Gegenwart leise entfiel. Nun hat die russisch-deutsche Gruppe um Dimitrij Belkin bei der teils autobiografischen Aufarbeitung der jüdisch-deutschen Zuwanderung in die Bundesrepublik einen erfrischenden Blick bewahrt, der einige Tabus bricht und Topoi thematisiert, die im christlich-jüdischen Dialog in Deutschland bislang nicht angetastet worden sind, Sozialhilfe als Wiedergutmachung beispielsweise. Doch die Erwartungen der Flüchtlinge waren abstrakt. Kurator Belkin

    "Wladimir Kaminer, der Schriftsteller hat uns den Fotovergrößerer seines Vaters gegeben, denn der Vater war ein Fotograf und hat gedacht, er macht hier eine große fotographische Karriere in Deutschland und hat ein Riesending mitgebracht, das die ganze Tasche füllte. Was absurd war, denn man hätte etwas Wichtigeres mitnehmen können, doch die Vorstellungen waren sehr abstrakt."

    Ausgerechnet Deutschland! Die jüdische Migrationswelle der Neunziger aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion führte, auch wenn sie zahlenmäßig klein gewesen ist, zu einer Zäsur im jüdischen Leben der Bundesrepublik. Der 39jährige Historiker Dimitrij Belkin spricht von dem Deutschen Judentum2. Nicht, weil die Einwanderungswelle auf Unkenntnis beruhte und Missverständnisse folgten, sondern weil mit ihr ein neues Geschichtsbild und eine neue jüdische Identitätsstruktur in die deutschen Gemeinden eingezogen ist.

    Auszug aus einem damaligen Schreiben zur Situation der Emigranten:

    Sehr geehrter Herr Kleinschmitt,
    schon 16 Monate, wir wohnen in Wohnheim. Dort wohnen wir ohne Bus, ohne Supermarkt. Die Sozialamt des Staates Eppstein, denen wir gehören sind, hat uns für Asylbewerber angenommen, aber wir sind Emigranten!


    Behördlicherseits als Kontingentflüchtlinge katalogisiert, sah sich die Mehrzahl der akademischen Emigranten aus den Ballungsgebieten in eine Provinz verpflanzt, in der spätestens seit 1945 keine Juden mehr gesehen worden sind. Dimitrij Belkin.

    "Kontingentflüchtlinge, diese Konstruktion wurde vor allem im Hinblick auf die vietnamesischen Boatpeople, die waren Flüchtlinge, angewendet. Die russischen Juden, weder hatten sie ein Kontingent, noch waren sie Flüchtlinge de facto. Man hat sie mit diesem Status ziemlich privilegiert in Bezug auf andere Einwanderungsgruppen aufgenommen."

    In der Ausstellung werden die verschiedenen Phasen der Emigration als Identifikationsprozess gestaltet, Videosequenzen und bewegungsgesteuerte Tondokumente und Szenarien geleiten den Besucher durch die Stadien der Migration.

    "Und dann ist man in der Gemeinde, und dann fragt man sich, was mache ich jetzt in der Gemeinde, wir haben schöne Aussagen: "Was hast Du gestern in der Gemeinde gemacht?" Was habe ich gemacht! Ich habe Schach gespielt, was sonst.""

    Der Tannenbaum als jüdische Erinnerung an die Sowjetunion, das Schulzeugnis einer russischen Remigrantin aus Israel, die dessen Hebräisch nicht mehr versteht. Paradoxien pflastern das Leben der Einwanderer und so die Ausstellung. Wobei ganz nebenbei Tabus gebrochen werden, Sozialhilfe der Gemeinden als Wiedergutmachung begriffen und artikuliert wird. Dass dabei die Konfrontation der unterschiedlichen Identitätsstrukturen zwischen von der Shoah gezeichneten jüdischen Überlebenden in Deutschland mit dem Bewusstsein der Nachkommen der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges, die sich in der Sowjetunion nicht als Opfer begriffen hatten und nicht am 9. November trauerten, sondern am 9. Mai ihren Sieg gegen Nazideutschland feierten, diese Konfrontation thematisiert die Ausstellung. Sie wird zukünftig im jüdischen Dialog der Bundesrepublik stärker sich noch artikulieren. Erst recht, wenn sich die jungen Emigrantenkinder auch sprachlich emanzipiert haben werden. Insofern ist diese Ausstellung eine die Hülse des Jüdischen Museums sprengende, eine, die sich bis Juli als Runden Tisch empfindet und Gespräche initiierten will und wird. Und der Gedanke von Raphael Gross, Direktor des Jüdischen Museum, die Historizität der Alltagsgegenstände produktiv zu nutzen, er geht in dieser Ausstellung auf. Ein neuer, ein erfrischender Wind aus Frankfurt.