Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Ausgrabung der "Republik Freies Wendland"
Gewaltfreier Protest für eine atomfreie Zukunft

Dass ein Archäologe jetzt die Spuren des ehemaligen Anti-Atom-Protestcamps "Freies Wendland" wissenschaftlich dokumentieren wolle, sieht die Grünen-Politikerin Rebecca Harms als Glücksfall. Harms zählt zu den Schlüsselfiguren der Bewegung. Ihnen sei es um einen positiven Gegenentwurf für die Region Wendland gegangen.

Von Dietrich Mohaupt | 03.11.2016
    Atomkraftgegner 1980 in der "Republik Freies Wendland".
    Atomkraftgegner 1980 in der "Republik Freies Wendland". (Imago / Sven Simon)
    Im Gorleben-Archiv in Lüchow – etwa 150 Kilometer nordöstlich von Hannover – schlummert in diversen Regalen und Schubladen so etwas wie das kollektive Wissen des wendländischen Widerstandes. Unmengen von Dokumenten, Fotos, Karten, Plakaten, persönlichen Tagebüchern und Bauplänen – gar nicht so einfach, da immer spontan fündig zu werden.
    "…noch nicht auf den ersten Griff gefunden…"
    …aber die Archivleiterin Birgit Huneke gibt so schnell nicht auf – und zieht schließlich einen großen Papierbogen aus der Schublade. Vorsichtig breitet sie das Blatt auf einem Tisch aus:
    "Das ist das Freundschaftshaus, das haben Architekten aus Hamburg gezeichnet und erstellt – das ist auch so berechnet worden, dass da so und so viele Menschen drauf Platz nehmen können, ohne dass es also statisch irgendwelche Schwierigkeiten gibt. Auf dem Dach … was ja dann auch bei der Räumung stattgefunden hat, da waren ja sehr viele Menschen drauf."
    Das Freundschaftshaus war der zentrale Treffpunkt in der "Republik Freies Wendland". Auf zahllosen Fotos und in so ziemlich jedem Dokumentarfilm ist es zu sehen. Heute ist die Fläche wieder komplett zugewachsen, wo genau das Haus auf dem von den Atomkraftgegnern besetzten Platz stand, ist nicht ganz einfach zu bestimmen.
    Erinnerung an damals in der ganzen Region noch sehr lebendig
    Unter anderem dieser Frage geht der Archäologe Attila Dézsi von der Universität Hamburg nach. Für seine Doktorarbeit will er die Hinterlassenschaften der ehemaligen "Republik" ausgraben und die genaue Lage und Ausmaße des Camps möglichst detailliert rekonstruieren. Das Hüttendorf, meint er, sei zwar Geschichte – aber in der Erinnerung einer ganzen Region noch sehr lebendig. Seit ein paar Wochen befragt er Zeitzeugen, sichtet Fotografien und Dokumente und schaut sich in dem Waldstück bei Gorleben genau um. Im kommenden Frühjahr will er festlegen, wo Grabungen Sinn machen – was er dann tatsächlich dort finden wird, weiß er nicht.
    "Wenn wir jetzt in einer steinzeitlichen Siedlung oder bronzezeitlichen Siedlung graben würden, dann würden wir genau wissen, was für Fundkategorien, was für Objekte wir zu erwarten haben, was uns begegnen wird. Aber gerade in der Neuzeit oder auch in der zeitgenössischen Archäologie ist es auch immer eine gewisse Überraschung, was zu finden sein wird. Es werden Dinge des Alltags sein, Dinge, die von symbolischer Bedeutung sind höchstwahrscheinlich für Einzelgeschichten. Und es gibt bisher keine Typologie der Alltagsgegenstände des 20. Jahrhunderts oder ähnliches – also, es wird auch spannend sein."
    Vier Wochen Protestcamp
    Während seines Studiums war Attila Dézsi auch als Ausgrabungshelfer in der Umgebung des ehemaligen KZs Mauthausen in Österreich aktiv – dort fand er immer wieder Objekte wie z.B. Kinderschuhe. Alltagsgegenstände aus der jüngeren Vergangenheit, die viel stärkere und konkretere Emotionen auslösen können, als sachliche Dokumente oder einfach nur Fotografien. Auf vergleichbare Funde mit ähnlicher Wirkung hofft er auch bei den geplanten Grabungen im Wendland: Funde, die helfen können, das Leben und das gerade einmal gut vier Wochen währende Alltagsgeschehen in dem Protestcamp kennen zu lernen und für die Nachwelt zu erhalten.
    "Es ist ja oftmals so, dass viele Erinnerungen sich verändern im Laufe der Zeit und nicht mehr das abbilden, was wirklich passiert ist. Die Frage ist, ob ich mit dieser Grabung die persönliche Erinnerung stärken will oder auch quasi eine gesellschaftliche Erinnerung an diesen Ort versuche auch in Gang zu bringen."
    Räumungsaktion des Lagers: bis dato größter Polizeieinsatz des Landes
    Das Lager selbst verschwand so schnell, wie es gekommen war. Hier bei Gorleben kam es am 4. Juni 1980 zum bis dahin größten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. Damit endete die physische Existenz des Protestcamps – mit schwerem Gerät wurden die Hütten zerstört, platt gewalzt und sämtliche Überreste des Lagers zugeschüttet. Bis zur letzten Minute übertrug der Piratensender "Freies Wendland" damals diese Räumungsaktion.
    "Die Leute auf dem Freundschaftshaus sitzen immer noch drauf, wir warten gespannt darauf, wer jetzt als nächstes dran ist … jetzt gehen die Raupen über auf die NRW-Häuser, die mit so viel Liebe und Mühe aufgebaut worden sind ...der ganze Platz sieht eigentlich aus, als wenn hier nie Leben drauf gewesen ist."
    Dem Nein sollte positive Orientierung folgen
    Die Räumung verlief weitgehend friedlich – auch das ist ein wesentlicher Aspekt des "etwas anderen Widerstands", den sich die Besetzer auf die Fahnen geschrieben hatten, der aber in der gesellschaftlichen Erinnerung an diese Ereignisse zu verblassen drohe, meint Rebecca Harms. Die Fraktionsvorsitzende der europäischen Grünen war damals eine der Schlüsselfiguren des Anti-Atom-Protests im Wendland – sie erinnert sich noch gut an stundenlange Debatten mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk und dem Gewerkschafter und Widerstandskämpfer Heinz Brandt.
    "Die gehörten zu denen, die von Anfang an gesagt haben: ‘Dem Nein muss eine positive Orientierung folgen’. Und wir wollten eben eine gute Perspektive, eine gute Zukunft für das Wendland, für diese Region als Gegenmodell setzen – und dafür ist dann u.a. auch diese Republik Freies Wendland zum Symbol geworden."
    Ein Hüttendorf eben nicht nur als Ort des Protests sondern als Entwurf für eine andere, eine bessere Gesellschaft – so hatten die Initiatoren sich das damals vorgestellt. Dass jetzt ein Archäologe die Spuren dieses Projekts erstmals wissenschaftlich dokumentieren und bewahren wolle, sei ein echter Glücksfall, meint Rebecca Harms.
    "Ich finde das deshalb auch so wichtig, weil die Auseinandersetzung um Gorleben und um die Frage ‘Was machen wir eigentlich mit dem Atommüll und wie finden wir gemeinsam in unserer Gesellschaft eine verantwortbare Lösung?’ – diese Geschichte ist ja noch nicht zu Ende, da ist gerade mal jetzt mit der Atommüll-Kommission eine Seite umgeblättert worden, aber die Geschichte wird noch mehrere Generationen brauchen, bevor es zu einer wirklichen Entscheidung kommt."