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Auslese kompakt
Was tierische Mythen über uns aussagen

Bärenjungen kommen als gestaltlose Klumpen auf die Welt, die von ihrer Mutter erst in Form geleckt werden müssen: nicht nur abgedrehte Idee, sondern lange Zeit biologische Lehrmeinung. Ein neues Sachbuch erklärt, wie es zu diesen abstrusen Mythen kommen konnte und wie viel Wahrheit in ihnen steckt.

Von Lennart Pyritz | 07.05.2018
    Ein Faultier greift nach einer Banane.
    Die Fernsehjournalistin Lucy Cooke räumt in ihrem Buch "Die erstaunliche Wahrheit über Tiere" mit Mythen über Faultier, Biber und Co. auf (dpa/ picture-alliance/ Monika Skolimowska)
    Lucy Cooke hat ein Herz für missverstandene Kreaturen. Das zeigt sich schon daran, dass sie Gründerin der Gesellschaft zur Würdigung des Faultiers ist. In Vorträgen kämpfte die in Oxford ausgebildete Zoologin gegen die verbreitete Auffassung, Faultiere seien träge und dumm – Eigenschaften, die Entdecker den Tieren im 16. Jahrhundert zuschrieben. Die renommierte Fernsehjournalistin recherchierte weiter und sah sich schließlich gezwungen ein Buch zu schreiben, um weitere Mitgeschöpfe zu rehabilitieren und uns selbst den Spiegel vorzuhalten: "Die erstaunliche Wahrheit über Tiere. Was Mythen und Irrtümer über uns verraten".
    "Wir Menschen haben das Atom gespalten, sind zum Mond geflogen und haben das Higgs-Teilchen entdeckt, aber was das Verständnis von Tieren betrifft, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Mich faszinieren die Fehler, die wir auf diesem Weg gemacht haben, und die Mythen, die wir geschaffen haben, um unsere Wissenslücken zu füllen."
    Abstruse Lückenfüller
    Viele dieser Lückenfüller erscheinen abstrus: Zum Beispiel, dass Zugvögel ins All ziehen oder Gänse aus Treibholz auf dem Meer wachsen. Doch Lucy Cooke macht auch klar: Die Mythen wurden oft von renommierten Gelehrten in Umlauf gebracht und gediehen auf dem Nährboden angesagter kultureller oder religiöser Überzeugungen. Ein Beispiel: Lange wurden Biber wegen einer öligen Flüssigkeit namens Bibergeil gejagt. Das Sekret bilden sie in Drüsensäcken, die früher mit den Hoden verwechselt wurden. Im Mittelalter wurde den Tieren nachgesagt, dass sie sich beim Anblick eines Jägers das Leben retten, indem sie sich selbst die Hoden abbeißen und diese dem Verfolger überlassen. Passend dazu wurde Castor – der lateinische Name für Biber – mitunter falsch mit "kastriert" übersetzt.

    "Die pikante Geschichte über die Klugheit eines Nagetiers sollte nämlich ein Lehrstück sein: Der Mensch muss sich all seiner Laster entledigen und sie dem Teufel aushändigen, wenn er in Frieden leben will. Die christlichen Morallehrer waren entzückt über diese nüchterne Entsagungsbotschaft. Kein Wunder, dass die Geschichte des Bibers in ganz Europa Verbreitung fand."
    Ein Biber ist am frühen Morgen zwischen den Ästen einer Weide im Wasser im Wasser der Oder nahe Lebus (Brandenburg) unterwegs.
    Bibern wurde nachgesagt, sie würden sich in Gefahrensituationen selbst kastrieren (dpa-Bildfunk / Patrick Pleul)
    Wie ein Bestseller zur Mythen-Bildung beitrug
    Bisweilen trug auch ein Bestseller zur Mythenbildung bei.
    "Durch die enorme Popularität von Bram Stokers 'Dracula' verbanden sich Tatsachen über Fledermäuse und Vampirfiktionen für immer miteinander, und das unschuldige Flattertier wurde als böser Schurke dargestellt."
    Fledermaus
    Durch "Dracula" wurde die Fledermaus zum blutsaugenden Horrortier (picture alliance / dpa / Koen Van Weel)
    Doch Lucy Cooke rekonstruiert in den 13 Kapiteln von Aal bis Schimpanse nicht nur – mal augenzwinkernd, mal akribisch –, wie Irrtümer über Tiere entstehen. Sie zeigt auch, dass abwegige Theorie und Wahrheit manchmal nah beieinander liegen.
    "Als Plinius der Ältere beispielsweise ein Flusspferd beschrieb, das eine blutrote Flüssigkeit über die Haut absonderte, griff er auf vertraute Erklärungen – in diesem Fall aus der römischen Medizin – zurück und stellte sich vor, dass das Tier sich selbst zur Ader ließ, um gesund zu bleiben."
    Flusspferd Maikel in seinem Gehege im Zoo von Frankfurt
    Auch über Flusspferde gibt es viele Mythen (dpa / picture alliance / Zoo Frankfurt)
    Dass Flusspferde sich selbst zur Ader lassen, gilt mittlerweile als widerlegt. Ganz falsch war Plinius' Idee indes nicht. Der rötliche Schleim hat tatsächlich etwas mit Selbstmedikation zu tun: Er wird über Hautporen ausgeschieden und enthält Pigmente, die vor ultravioletter Strahlung und Bakterien schützen. Auch deshalb warnt Lucy Cooke davor, nur mit mildem Lächeln auf die Fehleinschätzungen der Vergangenheit zu blicken. Irrwege seien ein wichtiger Bestandteil allen wissenschaftlichen Fortschritts – auch heute.
    "Ein Großteil der Zoologie ist nicht viel mehr als Rätselraten auf hohem Niveau."

    Zielgruppe: Alle, die verstehen wollen, wie aus historischen Gedankengebäuden und unserer Tendenz, Tiere zu vermenschlichen, fragwürdige Interpretationen erwachsen.

    Erkenntnisgewinn: Faultiere sind nicht faul, Biber neigen nicht zur Selbstkastration, und der Mensch lag mit biologischen Erklärungsversuchen sehr oft daneben.

    Spaßfaktor: Ein tiefer Einblick in die eng verschlungenen Auswüchse von Kultur, Religion und Naturforschung: aufschlussreich, selbstkritisch – und oft sehr witzig.

    "Die erstaunliche Wahrheit über Tiere. Was Mythen und Irrtümer über uns verraten". Sachbuch von Lucy Cooke, aus dem Englischen übersetzt von Gabriele Gockel, Christa Prummer-Lehmair und Jochen Schwarzer. Malik Verlag, 368 Seiten, 22,00 Euro.