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Auslotung der Unterwelt

Einer Blutspur des Begehrens folgt der Autor, Musiker und Journalist Jochen Rausch in seinen 13 Geschichten. Sie handeln von Verwandlungen und erzählen, wie gewöhnliche Menschen zu Tätern werden und kleine Macken im tödlichen Exzess enden.

Von Hartmut Kasper | 18.07.2012
    Im Grunde sind es Liebesgeschichten, die Rausch in dieser Sammlung erzählt. Aber was hier erzählt wird, hat wenig mit den hollywoodesken Paarungsprogrammen zu tun, in denen spätestens beim ersten Auftritt des zukünftigen Partners die Zuschauer wissen, wer für wen bestimmt ist – bestimmt von wem auch immer.

    In Rauschs Geschichten zieht das Begehren eine Blutspur durch die Welt.

    "Im Fernsehen haben sie das auch gebracht mit dem Michl. Den Hof haben sie gezeigt, da standen Polizeiautos und ein Leichenwagen. Mein Gott, das hat sie ja gar nicht gewollt, denkt Sylvia, dass dem Michel das passiert. Auch wenn´s ihm recht geschieht. Im Fernsehen haben sie gezeigt, wie zwei Männer in grauen Kitteln den Sarg zum Auto tragen. Und wie die Hühner den Sargträgern aufgeregt zwischen den Beinen herumflattern. Als könnte das Federvieh gar nicht fassen, dass der Michl tot ist."

    Der Michel ist aber tot, ermordet, und Sylvia, die das alles im Fernsehen verfolgt, ist seine Mörderin. Sie hat zusammen mit ihrem Mann den Bauern Michl geradezu abgeschlachtet: erschlagen, aufgespießt, den Kopf beinahe abgetrennt, andere Körperteile ganz und gar.
    Sie hatte Gründe. Der Bauer war, wie man erfährt, ein Frauenjäger, gewalttätig, erpresserisch, und er hat nicht nur Sylvias Leben zerstört.

    Alle Täter in diesen Erzählungen haben ihre Gründe. Gut sind sie nicht, weder die Gründe noch die Täter. Aber Rausch geht es auch nicht um moralische Disputationen. Die Welt, die er auslotet, ist eine Unterwelt. Es ist allerdings nicht die Unterwelt der Klein-, Schwer- und Berufskriminellen.

    Die Hauptfiguren dieser Fälle sind mehr oder weniger kleine Leute. Rausch nimmt die Leser mit auf einen Abstieg in deren Gedankenwelt. Es ist ziemlich gewöhnlich dort, fast wohnlich, jedenfalls völlig unspektakulär.

    "Wie eine Halskrause hat sich der Nebel um den Berg gelegt, denkt Robert. Unterhalb des Nebelrings sattgrün die Wiesen mit den Obstbäumen. Apfel, Birne, Kirsche. Darüber kommt dann ein breiter Saum aus Fichten und Tannen. Robert nennt das den Sommerherbst, weil ja eigentlich Sommer ist, Ende Juli, es aber schon regnet und nebelt wie im November. An der nördlichen Spitze des Sees entdeckt er einen Gasthof. Die Sonnenschirme da sehen aus der Ferne aus wie Butterblumen.
    Eine Stunde später sitzt er unter einem der Schirme, an einem schmalen Tisch nahe der Kinderschaukel. Er nimmt immer den ungünstigsten Tisch. Da setzt sich keiner zu ihm."


    Dass Robert in den Bergen Urlaub macht, missfällt seinem Vater. Der möchte seinen Sohn lieber die weite Welt erobern sehen. Robert erobert stattdessen das Herz der Bedienung, eines geistig leicht zurückgebliebenen Mädchens. Der Klappentext verrät: "Ausgangspunkt für den Erzählband sind reale Geschichten." Verbrechen gehören zu den Faszinosa nicht erst, seit Autor François Gayot de Pitaval im 18. Jahrhundert seine merkwürdigen Fälle zusammengestellt hat.

    Glaubwürdig sind die Geschichten allemal, und sie sind in aller Regel Verwandlungsgeschichten. Sie zeigen, wie sich gewöhnliche Menschen in Täter verwandeln.

    Da ist der Fall Cuveland, eines Mannes, der das sonderbare Liebesspiel eines jungen Paares in einer Seitengasse als Vergewaltigung missdeutet und den Liebhaber mit dessen eigenem Messer ersticht.

    Oder der Fall des Mörders Gerhard Blusch, der seine Gattin nicht, wie er anfangs behauptet hat, im Rahmen einer erbetenen Sterbehilfe getötet hat, sondern um sich von einer Lebenspartnerin zu befreien, die sich längst zum Despoten über seine Existenz aufgeschwungen und ihn buchstäblich in einem Kellerverlies gehalten hatte, wo ihm wohl ein TV-Gerät gestattet war, aber nur eines mit einem quälend schlechten Empfang – die geliebten Fußballspiele undeutlich verschneit.

    Die Sätze klingen unterkühlt, sind immer auf das Wesentliche beschränkt. Schnörkellose und trostlose Geschichten ohne Seitenpfade, ohne Ausweg. Als wäre das blutige Ende, die Liebeskatastrophe, zwangsläufig.

    Deswegen wirken die Menschen, die hier zu Tätern werden, so doppelbödig fremd-vertraut: vertraut, weil sie unsere Zeitgenossen sind und sich in unsren Breiten bewegen.
    Und zugleich fremd, weil sie wie von allen ihren Besonderheiten entblößt dastehen: fast mythisch anmutende, auf ihren Trieb reduzierte Wesen, die doch nur ihrem Begehren Bahn brechen wollten, so oder so.

    Am Ende der Geschichten wird die Welt nicht wieder ins Lot gerückt, wird nichts heil. Auch Sylvia, der Mörderin, und ihrem Gatten kommt die Polizei auf die Spur. Das Auf-die-Spur-Kommen ist in diesen Fällen meist ganz einfach. Die Kommissare fragen und erhalten Antwort, die Lösungen liegen nah.

    Es braucht keinen kauzigen Inspektor, keinen smarten Gesetzeshüter, der, wenn alles ermittelt ist, seine Sonnenbrille zurechtrückt und – mit sich im Reinen – in den Sonnenuntergang schaut.

    Ob Robert am Ende bereut, dass er seine junge, geistesschwache Geliebte aus Eifersucht mit Thallium vergiftet hat? Ob er kein Mitleid hatte?

    "'Nein', sagt Robert. 'Von Mitleid habe ich noch nie was gehört.'"

    Frauenmörder Blusch wird inhaftiert. Die Polizisten, die ihn in die JVA chauffieren, fragt er:

    "Wissen Sie, worauf ich mich freue? (…) Ich freue mich drauf, dass ich im Gefängnis mal wieder ein Fußballspiel ohne Schnee zu sehen bekomm."

    Nicht einmal Sylvias Mann Walter ist vom Klopfen an der Tür überrascht; er hat die Polizei schon längst erwartet und in der Küche etwas mit einer Zange am Gasherd gedreht. Sylvia öffnet die Tür:

    '"Zwei alte Polizisten sind das. Die beiden sehen gar nicht aus wie von der Polizei, denkt sie noch. So freundlich, wie sie lächeln. Und Sylvia lächelt auch.
    Also lächeln alle, als das Gas explodiert. Der Knall ist sogar noch am Stachus zu hören. Für einen Augenblick hält die Stadt den Atem an. Dann geht das Leben weiter."


    Das tut es wohl, wie immer. Allein der Leser bleibt erschrocken zurück, frappiert und von diesen Erzählungen durchaus tief beeindruckt.

    Jochen Rausch: Trieb. 13 Storys
    Berlin Verlag 2011, 207 Seiten, 18,90 Euro