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Ausnahmezustand in Frankreich
"Das hat nichts mit Gefahrenabwehr zu tun"

Nach den Terrorattacken in Frankreich sieht die Regierung in Paris weiter Handlungsbedarf. Doch die geplante Verfassungsänderung und die Verlängerung des Ausnahmezustandes sind umstritten. Die in Paris wohnende deutsche Schriftstellerin Gila Lustiger meint: reiner Populismus. Hier gehe es klar um eine Einschränkung der Freiheit.

Gila Lustiger im Gespräch mit Michael Köhler | 07.02.2016
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger (dpa / Jörg Carstensen)
    Der Ausnahmezustand ermögliche Ausgangssperren und Wohnungsdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss, Hausarrest für Menschen, die als gefährlich für die Sicherheit angesehen werden, Versammlungsverbote können verhängt werden, Konzertsäle und Kinos können geschlossen werden. Es gehe um eine Einschränkung der Freiheit der Bürger, so Lustiger.
    Interessant sei, dass laut einer Umfrage vier von fünf Franzosen für eine Verlängerung des Ausnahmezustands seien, also für einen starken französischen Staat. Bei der Wahl zwischen Freiheit und Sicherheit würden sich die Franzosen heute für Sicherheit entscheiden – das sei perfide, wie schnell so etwas kippen könne, so Lustiger. Sie fügte hinzu, dass diese Gratwanderung nach den Anschlägen der vergangenen Monate allerdings auch verständlich sei.
    Lustiger sagte, sie könne nicht beurteilen, ob der Ausnahmezustand ein effizientes Mittel zur Terrorbekämpfung sei. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass die in den letzten Wochen beschlagnahmte 560 Waffen leicht zu ersetzen seien. Schließlich koste ein Sturmgewehr auf dem Schwarzmarkt gerade mal 300 Euro.
    "Hausgebackene Terroristen"
    Mit Blick auf die aus Frankreich stammenden Attentäter spricht Lustiger von einem hausgemachten Problem, von "hausgebackenen Terroristen". Es sei schockierend, dass sich Menschen, weil sie sich ausgegrenzt fühlten, dem radikalen politischen Islam zuwendeten, um dann zu töten. Der geplante Entzug der Staatsbürgerschaft für verurteilte Terroristen sei eine absolut populistische Maßnahme, so Lustiger. Als Jüdin müsse sie sofort an die Ausbürgerung von Oppositionellen und Juden während des Nationalsozialismus denken, "das geht gar nicht anders".
    Sie finde es auch vollkommen ironisch, dass ausgerechnet in dem Land, in dem mit Stolz die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verkündet worden seien, jetzt gerade eine linke Regierung die Forderung nach Aberkennung der Staatsbürgerschaft stelle: "Das ist für mich vollkommen perfide."
    Staatsbürgerschaft hat nichts mit der Gewaltbereitschaft zu tun
    Premierminister Manuel Valls spreche das gesunde Volksempfinden aus, wenn er sagte, dass diejenigen, die uns angreifen, ausgeschlossen gehörten – aber das mache den Populismus ja auch so gefährlich, dass er logisch erscheint. Lustiger erinnerte an den 1. Artikel der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden – und es vor allem auch bleiben. Dabei spiele es keine Rolle, ob jemand straffällig werde, islamistischer Gesinnung sei oder andere verachte.
    Eine Staatsbürgerschaft sei nicht etwas, das von der Gewaltbereitschaft seines Inhabers abhängt oder abhängig gemacht werden könne, sagte Luustiger. Menschen könnten nicht einfach aus einer Staatsgemeinschaft geworfen werden. Außerdem sehe man, dass Terroristen mit Pässen einreisen könnten. Daher habe die Forderung nach einem Entzug der Staatsbürgerschaft nichts mit Gefahrenabwehr zu tun und sei nur reiner Populismus.
    Das Gespräch können Sie mindestens sechs Monate nachhören.