Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Ausrottung der eigenen Spzies

Margaret Atwood sieht sich selbst in der Tradition von Jules Verne, der viele Erfindungen voraussah, bevor sie Realität wurden. Auch Atwoods neuer Roman zeigt ein Modell der Realität projiziert in die nahe Zukunft - einer Welt der Gentechnik und Konzerndiktatur.

Von Brigitte Neumann | 31.12.2009
    "Das Jahr der Flut ist Fiktion; doch die allgemeine Richtung und viele Details sind beunruhigend nahe an der Wirklichkeit", schreibt Margaret Atwood am Ende ihres aktuellen Romans.

    "Denn wir haben bereits fast alle einzelnen Aspekte zusammen, damit sich eine solche Gesellschaft, wie ich sie beschreibe, bilden kann."
    Es ist eine Gesellschaft, deren Eliten vom Eifer besessen sind, die eigene, fehlerhafte Spezies auszulöschen. "Das Jahr der Flut" ist eine Dystopie, wie die 70-jährige Kanadierin schon einige verfasst hat.

    Nach der islamischen Revolution im Iran 1979, die besonders Frauen in eine verzweifelte Lage stürzte, schrieb Margaret Atwood den Roman "Der Report der Magd": Eine Warnung vor christlich-religiösem Fundamentalismus in Amerika. Kurz vor dem Ausbruch der Bankenkrise 2008 schrieb sie "Payback", einen Essayband über Schuld und Schulden. Als klar war, dass mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms 2001 ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit aufschlagen würde, schrieb sie den Roman "Oryx und Crake". "Das Jahr der Flut" ist eine Variante dieses 2003 erschienenen Romans. Er handelt vom gleichen Ort, der gleichen Zeit, sogar einige der Figuren tauchen wieder auf – nur die Perspektive ist neu.

    "Also, wenn Sie wissen wollen, welche Art Buch das ist: Ich würde sagen, sein Urahn ist Jules Verne. Jules Verne schrieb über Dinge, von denen er ahnte, dass sie einmal erfunden werden würden. Und meist kam es dann ja auch so. In die Reihe der Nachfahren gehören Romane wie '1984', 'Schöne neue Welt', 'Das Tal des Lebens' von John Christopher, Richard Powers 'Das größere Glück'. Und 'Das Jahr der Flut' ist auch so ein Buch. Ein Modell der Realität projiziert in die nahe Zukunft."
    In dieser nahen Zukunft sieht Atwood die Welt bevölkert von Kombitieren. Sie heißen Löwämmer und Luchskätzchen. Grüne Kaninchen leuchten, weil sie Quallengene enthalten. Gespleiste Schweine mit menschlichem Hirngewebe dienen als Ersatzorganlager.

    Und wie weit sind wir bereits in Wirklichkeit? Ein lebendes Leuchtkaninchen wurde 1999 auf der Ars Electronica gezeigt und die synthetische Biologie überrascht täglich mit Neuschöpfungen: Algen, die Ölmoleküle herstellen, Mikroben, die CO2 fressen.

    Schon bald werden Roboter vollautomatisch eine Million Chromosomen täglich zusammensetzen und prüfen, ob sie lebensfähig sind oder gewünschte Stoffe herstellen. Auf diesem Wege geht die Evolution von Menschenhand geleitet weiter, sagte der Biologe Craig Venter kürzlich in einem Interview.

    Übers Internet kann übrigens jedermann inzwischen DNS-Bastelsets in den USA kaufen und seinen Beitrag zur Umleitung der Evolution leisten. Dass der ganze Biohype womöglich ein schlimmes Ende nimmt, zeigt ein Versuch der Redaktion des Guardian. Ihr war es 2006 gelungen, über das Internet ein Fläschchen mit genetischem Material von Pocken-Viren zu bestellen - Bestandteile eines Virus, der seit mehr als 30 Jahren eigentlich weltweit ausgerottet ist.

    Dieser kleine Exkurs aus der Atwood'schen Fiktion in die Realität der Gegenwart soll zeigen, wie nah die Autorin mit ihrer Geschichte an einer nur wenigen bekannten Entwicklung ist.

    "Die Leute haben keine Ahnung, was alles schon möglich ist und gemacht wird. Sie denken, das seien die fixen Ideen von Schriftstellern. Aber vieles existiert eben schon."
    Der Roman "Das Jahr der Flut" spielt in einer nicht näher bezeichneten Stadt Nordamerikas, die noch nicht – wie große Teile des Landes - von Dürre, Stürmen und Überschwemmungen zerstört wurde. Dort führen Angestellte, die sogenannten "Komplexler", in bewachten Luxusburgen ein streng reglementiertes Leben; die "Plebsler" fristen ihres in Sinkhole, einem gigantischen Ghetto. Sie hungern, werden versklavt oder umgebracht, ausgeweidet und durch den Fleischwolf gedreht. Manchmal finden sich Fingernägel in den Billigprodukten der Firma "Geheimburger". Niemanden kümmert es.

    Es regieren Biokonzerne und deren Privatarmeen. Die Demokratie ist tot, der Staat bankrott. Er hat sich aufgelöst in einer Fusion namens Public-Private-Partnership. Margaret Atwood:

    "Wir haben gerade gesehen, wie sich während der Rezession das Tempo der Verschmelzung erhöht hat. Als nämlich die Regierung eine Menge Geld in private Unternehmungen fließen ließ. Ist das gut? Nein! Denn es macht den Staat zu einem Anteilseigner an diesen Geschäften, und deshalb hat er Interesse daran, dass sie Profit abwerfen. Und es vernichtet damit den souveränen Staat. Das heißt, wenn es einmal so weit kommen sollte, dass wir Regierungen haben, die sich nicht weiter von Firmen unterscheiden, dann ist das verheerend. Dann wird nämlich niemand mehr da sein, der Sie oder irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft schützen könnte."
    In Atwoods Konzerndiktatur gibt es nur eine halbwegs funktionierende Opposition, und die ist religiös. Die Gottes-Gärtner, eine wehrhafte Sekte in blauer Einheitsmontur, sind vorwiegend Überläufer, Entflohene aus den Labors der Biokonzerne. Leute, die wissen, was gespielt wird. Unter der Führung eines Mannes, der sich Adam 1 nennt, formieren sie eine Organisation, die ihre Mitglieder ernährt, schützt und durch religiöse Rituale Struktur und Sinn herstellt.
    Nachdem sie von Gottesgärtnern aus den Fängen eines Sadisten gerettet wurde, fragt Atwoods Erzählerin Toby, warum bei ihnen ständig von der Strafe Gottes die Rede wäre. Adam 1 antwortet ihr – ganz im Ton eines gewieften PR-Strategen:

    Wir Menschen haben uns dahin entwickelt, an Götter zu glauben. Dieser Hang zur Gläubigkeit muss uns also einen evolutionären Vorteil verschafft haben. Die streng materialistische Sicht, dass wir ein Experiment seien, das das tierische Eiweiß mit sich selbst anstellt, ist den meisten Menschen viel zu harsch und einsam. Natürlich wird man auch bestraft, ohne dass Gott im Spiel ist. Aber das wollen sich die Menschen nur ungern eingestehen. Wenn schon Strafe, dann wollen sie auch einen Bestrafer. Sinnlose Katastrophen behagen ihnen nicht.

    "Im Laufe der menschlichen Geschichte waren die religiösen Gruppen, die nicht mit besonders viel Macht ausgestattet waren, häufiger mal die Bewahrer der guten Moral, des ethischen Verhaltens. Damit eine Religion konstruktiv wirken kann, ist wichtig, ob sie menschenfreundlich ist, auf welche Gesellschaft sie trifft und dass sie nicht zu viel Macht hat."

    Eigentlich wollte Margaret Atwood ihren neuen Roman "The Gods Gardeners" nennen. Ihr kanadischer Verlag hat jedoch abgeraten. "Die Gottesgärtner" – Das würde die falschen Käufer anziehen. So kam es zum Titel "Das Jahr der Flut". Und erst sehr spät im Buch wird klar, dass es sich um eine Flut von Viren handelt. Im Labor erfundene Viren, die ein Konzern verbreitet, um am Verkauf des rettenden Medikaments zu verdienen. Eine zweite Welle von Viren soll der Menschheit dann endgültig den Garaus machen. Die Bioingenieure brauchen Platz für ihr Geschwader perfekter Menschen, die sich unbehelligt vermehren sollen. Der Plan, so viel sei verraten, geht allerdings nicht auf.

    Es ist nicht schwer, herauszufinden, was die Lektüre des Romans von Margaret Atwood "Das Jahr der Flut" gelegentlich quälend macht. Er enthält 13 vielstrophige peinliche Gesangbuchhymnen, 13 leirige Predigten von Adam 1 und einen Unterton resolutesten Öko-Messianismus, der spürbar nicht nur von den Gottesgärtnern kommt, sondern von der Autorin selbst. Ihre Sorge gilt im Roman wie im wahren Leben der Umwelt, besonders bedrohten Vogelarten. Für ihr Engagement gebührt ihr Respekt.

    Margaret Atwood ist Ehrenpräsidentin der "Rare Birds Society" und widmete ihre dreimonatige, emissionsneutrale grüne Buchtour, die sie exakt an ihrem 70. Geburtstag Mitte November abschloss, dieser Organisation. Bei jedem Lese- und Interviewtermin zog sie gegen sonnengereiften Kaffee zu Feld, da der nur mit Pestiziden wachse, und so den Vögeln ihre Lebensgrundlage entziehe. Auch das kann man ausführlich im Roman nachlesen.

    Bei allem Respekt: Der Leser spürt, er soll durch die Hintertür des Romans belehrt und auf den besseren Weg gebracht werden. Er fühlt sich benutzt. Womöglich geht er am Ende noch los und bestellt sich – aus purem Trotz – eine Portion Wachteln.