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Ausschreibungen bei medizinischen Hilfsmitteln
Wie Patienten Opfer von Sparbemühungen werden

Plötzlich ist man selbst oder ein naher Angehöriger auf einen Rollator angewiesen. Nur wo bekommt man den her? Die meisten würden es vermutlich beim Sanitätshaus um die Ecke versuchen - und scheitern. Denn inzwischen kann es sein, dass jemand aus Frankfurt am Main seinen Rollstuhl in Hamburg beziehen muss. Warum? Weil Politik und Krankenkassen es so wollen. Doch der Widerstand wächst.

Von Thorsten Gerald Schneiders | 28.05.2015
    Ein junger Mann sitzt in einem Rollstuhl.
    "Stellen Sie sich vor, jemand wird Freitagmittag aus dem Krankenhaus entlassen und braucht dringend einen Rollstuhl. Dann dürfen wir nichts machen." (Imago / Westend61)
    Gerhard Marx wird in seinem Sanitätshaus im hessischen Hanau immer wieder mit dem Unmut der Betroffenen konfrontiert: "Wir sind mit dem Geschäft seit 57 Jahren am Markt", sagt er: "Es kommen Kunden zu uns, deren Mutter oder Oma wir schon versorgt haben. Nun haben sie einen neuen Fall in der Familie, und auf einmal dürfen wir nicht mehr liefern. Das versteht doch niemand." Vor allem wenn ein Patient aus dem Krankenhaus entlassen werde, sei die Not groß, führt Marx aus: "Stellen Sie sich vor, jemand wird Freitagmittag entlassen und braucht dringend einen Toilettenstuhl. Dann dürfen wir nichts machen. Nur das Unternehmen, das die bundesweite Ausschreibung der Krankenkasse gewonnen hat, darf liefern. Und diese Firma sitzt mitunter Hunderte Kilometer weit weg. Da kommt der Stuhl frühesten nächste Woche."
    Gerhard Marx
    Sanitätshaus-Inhaber Gerhard Marx hat eine erfolgreiche Online-Petition gegen die Ausschreibung von Rollstühlen gestartet. (Foto: G. Marx)
    Eigentlich dazu gedacht, Betroffene finanziell zu entlasten, geraten die 2007 im Rahmen der Gesundheitsreform eingeführten Ausschreibungen für medizinische Hilfsmittel zunehmend in die Kritik. Das Gesetz hält Krankenkassen an, zum Beispiel für Rollatoren, Rollstühle oder auch Windeln für Erwachsene, die an Inkontinenz leiden, Ausschreibungen zu machen. Angesichts stetig steigender Ausgaben im Hilfsmittelbereich solle dadurch mehr Wettbewerb erzeugt und Unternehmen zu wirtschaftlichen Angeboten veranlasst werden, heißt es. In der Regel kommt so der Hersteller mit dem günstigsten Angebot zum Zug. Nach den Angaben des Beauftragten der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag für Menschen mit Behinderungen, Uwe Schummer, führt der auf diese Weise verstärkte Wettbewerb zu Einsparungen von rund 300 Millionen Euro pro Jahr.
    Verena Bentele (Beauftragte der Bundesregierung): "Wir brauchen ein Umdenken bei den Krankenkassen"Uwe Schummer (CDU): "Regelungen stellen per se keine zusätzliche Belastung dar"Heike Baehrens (SPD): "Es ist wichtig, die Ausschreibungspraxis zu überprüfen"Katrin Werner (Die Linke): "Unsägliche Zustände"Corinna Rüffer (Bündnis 90/Die Grünen): "Krankenkassen verlangen teilweise demütigende Aufzeichnungen"Jörg Bodanowitz (DAK-Gesundheit): "Strenges Verfahren sichert Fairness"Markus Kuhlmann (Spectaris): "Klein- und mittelständische Struktur wird systematisch zerstört"
    Gerhard Marx hat trotzdem eine Online-Petition dagegen gestartet: "Ausschreibung von Rollstühlen verbieten". Mehr als 57.000 Personen unterzeichneten sie bislang. Und auch aus Politik und Verbänden erfährt er Zustimmung. In Kürze sollen die gesammelten Unterschriften dem Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) übergeben werden. Ein Termin wird derzeit abgestimmt.
    Das Bundesgesundheitsministerium weist auf Anfrage des Deutschlandfunks darauf hin, dass die Ausschreibungen nur einen "vergleichsweise kleinen Teil" des Ausgabenvolumens im Heilmittelbereich ausmachen - er liege im einstelligen Prozentbereich. Zudem dürften die Krankenkassen nicht nur auf den Angebotspreis achten. Sie hätten auch die Pflicht, vor Vertragsabschluss mit einem Ausschreibungsgewinner die Qualität der Hilfsmittel, die notwendige Beratung der Versicherten sowie eine wohnortnahe Versorgung sicherzustellen. Ministeriumssprecherin Jasmin Maschke fügt hinzu, auch nach Vergabe des Vertrages seien die Krankenkassen aufgefordert, "intensiv und systematisch zu prüfen, ob die Versorgungen vertragskonform durchgeführt werden."
    "Unsägliche Zustände"
    Doch das funktioniert offenbar nicht. Die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Verena Bentele, fühlt sich veranlasst, die Kassen aufzurufen, ihre Pflichten wirklich ernst zu nehmen: "Sollte die Qualität am Ende nicht stimmen, müssen Verträge notfalls auch gekündigt werden." Auch der SPD-Bundestagabgeordneten Heike Baehrens sind die Probleme vertraut: Inzwischen lägen eine Reihe von Petitionen vor, denen zu entnehmen sei, dass die Qualität fast immer hinter dem Preis zurückstehen müsse, das sei nicht in Ordnung, sagt sie. Baehrens drängt auf eine Überprüfung der gesetzlichen Vorgaben.
    Noch deutlichere Worte findet die behindertenpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion, Katrin Werner. Sie macht "unsägliche Zustände" aus: Es gebe Situationen, da sei Inkontinenz-Patienten einfach ein "wohnungsfüllender Halbjahresbedarf" vor die Haustür gestellt worden. Werners Kollegin bei den Grünen, Corinna Rüffer, kennt diese Fälle ebenfalls und ergänzt: "Reichen die gelieferten Windeln nicht aus, verlangen die Krankenkassen teilweise demütigende Aufzeichnungen des Windelverbrauchs."
    Nicht mal einen platten Reifen reparieren dürfen
    Nicht nur die Anschaffung der medizinischen Hilfsmittel führt zu Problemen. Auch bei einfachen Reparaturen kommt es wegen der Ausschreibungspraxis nach Darstellung Rüffers zu Unmut: "Der Rollstuhlnutzer darf im Extremfall selbst einen platten Reifen nicht bei dem Sanitätshaus reparieren lassen, das einige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt ist." Eigentlich sollten die Ausschreibungen nur für standardisierte Hilfsmittel genutzt werden, verlangt die Grünen-Abgeordnete, nicht für Rollstühle, die individuell angepasst und bei Bedarf schnell repariert werden müssten.
    Ein Mitarbeiter der Werkstatt für gebrauchte medizintechnische Geräte des Vereins Start e.V. in Schwerin repariert am einen Rollstuhl.
    Klein- und mittelständische Strukturen würden "systematisch zerstört", warnt Spectaris. (dpa / Jens Büttner)
    Bei der DAK-Gesundheit kann man die Aufregung nicht so recht verstehen. Unternehmenssprecher Jörg Bodanowitz erklärt gegenüber diesem Sender: "Vor jedem neuen Vertragsabschluss prüfen wir, ob ein eine Ausschreibung sinnvoll ist." In etlichen Bereichen habe man die bisherigen Versorgungsstandards sogar verbessern können. Auch Uwe Schummer vermag keine grundsätzliche Verschlechterung für die Betroffenen zu sehen. Der CDU-Mann weist darauf hin, sollte es Probleme geben, sehe das gesetzliche Instrumentarium das Recht des Patienten vor, bei berechtigten Gründen auf andere Produktanbieter der Krankenkasse auszuweichen.
    Beschwerdemöglichkeiten für Patienten müssen einfacher werden
    Diese Hinweise lassen Kritiker allerdings nicht gelten. Die Betroffenen hätten derzeit keine echte Handhabe, sich gegen die patientenunfreundliche Praxis mancher Krankenkassen zu wehren, merkt Corinna Rüffer an: "Deswegen müssen die Beschwerdemöglichkeiten für die Patientinnen und Patienten beim Bundesversicherungsamt einfacher werden."
    Unterstützung erfährt Gerhard Marx' Petition auch vom Deutschen Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien – kurz Spectaris. Marcus Kuhlmann, Leiter des Fachverbands Medizintechnik, fasst die Situation so zusammen: "Ausschreibungen führen unseres Erachtens zu einer erheblichen Verschlechterung der Versorgungsqualität der Patienten." Und nicht nur das: Die ganze Debatte hat auch eine betriebswirtschaftliche Komponente.
    "Dann können wir unser Geschäft schließen"
    Anbieter wie Gerhard Marx fürchten am Ende auf der Strecke zu bleiben, da sie sich bei den Ausschreibungen keine Chancen gegen größere Anbieter ausrechnen. Als sich Ende 2014 die DAK-Gesundheit dazu entschloss, eine Ausschreibung für Rollstühle zu machen, war für Marx die rote Linie überschritten. Zuvor seien nur kleinere Krankenkassen diesen Schritt gegangen, sagt er: "Aber die Entscheidung der DAK hat uns ins Mark getroffen. Wenn demnächst auch noch AOK, Techniker Krankenkasse und Barmer nachziehen, dann können wir unser Geschäft schließen."
    Auch diese Sorgen werden beim Branchenverband Spectaris geteilt. Klein- und mittelständische Strukturen würden "systematisch zerstört", warnt Kuhlmann. Auch deshalb lehnt sein Verband die Ausschreibungen im Hilfsmittelbereich "grundsätzlich als ungeeignet" ab. CDU-Politiker Uwe Schummer lässt das nicht gelten. Er sagt: "Kleinere Anbieter können durch Qualität der Produkte und/oder durch Zusammenschlüsse mit anderen Chancen erhalten."