Donnerstag, 28. März 2024

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Ausschreibungen bei medizinischen Hilfsmitteln
"Wir brauchen ein Umdenken bei den Krankenkassen"

Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, hat die Krankenkassen zum Umdenken bei der Versorgung von Menschen mit medizinischen Hilfsmitteln aufgerufen. Es gehe hier auch um die Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention, teilte sie dem Deutschlandfunk mit. Wegen der derzeitigen Ausschreibungspraxis komme es in vielen Fällen zu Problemen, so Bentele. Allerdings kennt sie auch positive Beispiele.

28.05.2015
    Die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, bei ihrer Amtseinführung
    "Es gibt offenbar Qualitätsprobleme in der Hilfsmittelversorgung." (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    1. Frage: Warum wird auf Ausschreibungen im Bereich medizinischer Hilfsmittelbereich gesetzt?
    Verena Bentele (Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen): Durch Ausschreibungen im Bereich medizinischer Hilfsmittel besteht wie bei anderen Ausschreibungs- und Vergabeverfahren die Möglichkeit, Kosten zu senken. Dies kann auch Auswirkungen auf die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) haben und kann daher aus Gründen des Wettbewerbs erfolgen. Die Kassen werben gerne mit ihren Beitragssätzen.
    2. Frage: Wie bewerten Sie diese Praxis? Werden Menschen mit Behinderung hierdurch zusätzlich belastet?
    Bentele: In den Eingaben, die an mich gerichtet werden, wird diese Form der Ausschreibungspraxis nicht unmittelbar thematisiert. Aber es gibt offenbar Qualitätsprobleme in der Hilfsmittelversorgung. Es ist vor allem das Wirtschaftlichkeitsgebot, das die Krankenkassen häufig zu einer Versorgung veranlasst, die nicht den Bedarfen der betroffenen Menschen entspricht. So gibt es beispielsweise immer wieder Schwierigkeiten bei der Kostenübernahme für besondere E-Rollstühle. Betroffenenverbände beklagen unter anderem auch die Einschränkung der Wahlfreiheit.
    3. Frage: Zur Begründung der Petition wird darauf hingewiesen, dass die Vorgaben aus dem SGB V, § 127 Abs. 1 (Sicherstellung der Qualität, wohnortnahe Versorgung) durch solche Ausschreibungen nicht gewährleistet sei. Ist das der Fall?
    Bentele: Ich kann bestätigen, dass dies in vielen Fällen der Fall ist. Ein Beispiel ist die Hörgeräteversorgung: In den Einzelverträgen der Kassen sind im Normalfall Regelungen für einen Wechsel des Leistungserbringers getroffen. Das ist zum Beispiel dann wichtig, wenn ein Patient umzieht und die Nachbetreuung durch den ursprünglichen Dienstleister nicht gewährleistet ist. Nach Einschätzung der Betroffenenverbände funktioniert dies nicht immer gut, die Produkt- und Dienstleistungsqualität leidet.
    Es gibt aber auch positive Beispiele: eines ist die Versorgung mit Inkontinenzartikeln. Einige Kassen hatten ihren Mitgliedern auf Grundlage einer Ausschreibung den Artikel eines bestimmten Herstellers - des kostengünstigsten - angeboten. Die zunächst mangelhafte Qualität machte jedoch vielen Betroffenen zu schaffen. Es folgten zahlreiche Beschwerden und daraufhin ein Einlenken der betroffenen Kassen. Nun gehören die qualitativ hochwertigen Inkontinenzartikel zur Standardleistung der betroffenen Kassen.
    4. Frage: Stimmt es, dass die Versorgung mit medizinischen Hilfsmitteln wie Rollstühlen durch Ausschreibungen länger dauert? Kommt es dadurch zu einer Verlängerung der Lieferzeiten? Gibt es Verzögerungen bei Reparaturen, weil nicht mehr immer wohnortnah repariert werden kann?
    Bentele: Verlängerung der Lieferzeiten oder Verzögerungen bei Reparaturen sind ein klares Verschulden des entsprechenden Dienstleisters. Mir werden immer wieder Fälle bekannt, in denen Reparaturen sehr lange gedauert haben. Allerdings war die Ursache nicht die Ausschreibung an sich. Auch auf anderem Wege können Anbieter gewählt werden, die mangelhafte Ware oder Dienstleistungen anbieten, auch über Rahmen- oder Einzelverträge.
    5. Frage: Weiter wird bemängelt, dass bereits durchgeführte Ausschreibungen gezeigt hätten, sollte ein Versicherter eine an seine Behinderung besser angepasste Versorgung einfordern, gehe dies zulasten des Versicherten. Es werde über den Weg der Zuzahlung durch den Patienten eine Kostenbeteiligung eingefordert, die oft viel höher als marktüblich seien. Haben Sie eigene Hinweise auf diese Praxis? Wird über Zuzahlungen tatsächlich die Versorgungsanpassung gesteuert? Und wenn ja, liegen diese über einem marktüblichen Niveau?
    Bentele: Bei einem berechtigten Interesse haben Versicherte das Recht, ein anderes Hilfsmittel zu wählen und müssen tatsächlich den entsprechenden Aufpreis zahlen. Zu Beginn war dies beispielsweise bei der erwähnten Inkontinenzversorgung so, wenn die Versicherten die teureren Artikel nutzen wollten. Von einer nicht marktüblichen Zuzahlung durch Patienten habe ich keine Kenntnis.
    6. Frage: Wie lässt sich verhindern, dass durch Ausschreibungen und die damit verbundene Unterbietung der Preise die Einnahmen des Ausschreibungsgewinners so weit gedrückt werden, dass dies zulasten der Produktqualität geht?
    Bentele: Die Kassen sind jetzt schon verpflichtet, eine ausreichende, zweckmäßige und funktionsgerechte Herstellung, Abgabe und Anpassung der Hilfsmittel sicherzustellen. Leistungsanbieter müssen anhand dieser Kriterien ausgewählt werden. Meine Forderung an die Kassen ist, diese Pflicht wirklich ernst zu nehmen: Sollte die Qualität am Ende nicht stimmen, müssen Verträge notfalls auch gekündigt werden. Ganz wichtig ist, auf Beschwerden von betroffenen Menschen zeitnah zu reagieren. Diese sind Experten in eigener Sache und letztendlich diejenigen, denen durch mangelhafte Produkte die Teilhabe erschwert wird. Wir brauchen an vielen Stellen auch ein Umdenken bei den Kassen: Bei der Bereitstellung von Hilfsmitteln soll es nicht nur darum gehen, Grundbedürfnisse auszugleichen. Es geht darum, im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention echte und gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen. Den Betroffenen kann ich nur raten, im Einzelfall nicht nachzugeben und Probleme bei der Hilfsmittelversorgung immer wieder an die Kassen zurückzugeben.
    7. Frage: Sehen Sie die Gefahr, dass durch Preisunterbietungen kleinere Anbieter von Produkten im medizinischen Hilfsmittelbereich aus dem Markt gedrängt werden?
    Bentele: Davon ist mir nichts bekannt.
    Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.