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Ausschreitungen gegen Flüchtlinge
"Man muss auch dieses Feindbild zerstören"

Es sei nicht schwierig, die Hasstiraden gegen Flüchtlinge zu verurteilen, denn die seien mitunter kriminell, sagte der Schriftsteller Ingo Schulze im Deutschlandfunk. Man müsse vielmehr immer wieder auch das historische, soziale und politische Denken propagieren - und Erklärungen schaffen, die sich nicht auf Feindbilder beschränken.

Ingo Schulze im Gespräch mit Michael Köhler | 28.08.2015
    Der Schriftsteller Ingo Schulze
    Der Schriftsteller Ingo Schulze (imago/Galuschka)
    Michael Köhler: Wenn wir weiter auf der emotionalen Welle surfen, die von Flüchtlingsströmen spricht, die alles "wegspülen", dann machen wir es schlimmer, sagte heute Morgen die Schriftstellerin Juli Zeh in diesem Programm. Einen Höhepunkt fand die Häme im Netz gegen Flüchtlinge und Flüchtlingsunterkünfte als auf Facebook untergehenden Booten im Mittelmeer Applaus gespendet wurde. Ingo Schulze, 1962 in Dresden geborener Schriftsteller, der viele Romane und Erzählungen aus dem Nachwende-Deutschland geschrieben hat, habe ich gefragt: Steht zu befürchten, dass der namenlosen Hass-Propaganda und ihren Worten weitere Taten folgen?
    Ingo Schulze: Es kommt halt darauf an, wie man darauf reagiert. Das ist, glaube ich, sehr wichtig. Man kann einfach nur immer wieder aufklären und sagen, was die Ursachen von solcher Flüchtlingspolitik sind. Das fehlt. Diese soziale Polarisierung innerhalb Deutschlands hat, glaube ich, auch damit zu tun, dass es so eine Aversion gibt. Das ist nur ein Grund und da muss man jetzt noch vieles dazusagen, aber das fällt auch immer untern Tisch.
    Köhler: Lassen Sie uns noch einen Moment bei den Hasstiraden und der Hasspropaganda in sozialen Netzwerken bleiben. Die TV-Entertainer Joko und Klaas haben gerade Stellung gegen Rassismus und Polemik gegen Flüchtlinge bezogen. Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, Patrioten oder Volkes Stimme und Lügenpresse-Propaganda. Der haben die eine Absage erteilt quasi als Gegenstimme in sozialen Netzwerken. Muss man quasi mit den eigenen Waffen zurückschlagen?
    Schulze: Na ja. Ich weiß jetzt nicht genau, was sie gemacht haben. Aber ich denke halt, man kann nur versuchen, zu differenzieren und sehr klar zu sein. Und es ist ja auch ein bisschen spät, dass Angela Merkel mal ein Flüchtlingsheim besucht hat. Und dass es da über die humanitäre Hilfe auch eine Verantwortung von Deutschland, überhaupt von Europa gibt, das ist etwas, was viel zu wenig klargemacht wird. Und da muss man sich, glaube ich, an die eigene Nase fassen. Ich meine, das ist jetzt nicht schwierig, zu sagen, diese Hasstiraden, das ist ja alles nicht hinnehmbar, das ist inakzeptabel, das ist mitunter auch kriminell. Das ist das eine. Aber das sind ja nicht irgendwelche Randgruppen, das geht ja tief in die Gesellschaft hinein. Man kann einfach nur irgendwie immer wieder das historische, soziale, politische Denken propagieren und da Erklärungen schaffen und sich nicht auf dieses Nationale einlassen.
    Köhler: Ich will mal ganz kurz ein Beispiel zitieren, damit man das nur wenigstens einmal im Ohr hat. Das ist ja nichts Randständiges, sondern das kommt viel vor. "Wie wär's mit Giftgas? Kostet nichts und wir wären einige Probleme los." - "Krieg' ich einen Hals, wenn ich sehe, wie unsere Bürger so im Stich gelassen werden." - Das sind so Stimmen. Eine Klarnamen-Pflicht oder Ähnliches würde es auch nicht besser machen. Oder wenn man die Parolen abschafft oder verbietet, wird man den Hass nicht los.
    Schulze: Feindbild zerstören
    Schulze: Ja! Das ist in gewisser Weise schon ein krimineller Tatbestand und man muss auch das andere ernst nehmen und sehen, dass es nicht einfach eine soziale Frage ist. Und das ist nicht von heute auf morgen zu lösen. Aber das ist es eben auch und es ist natürlich auch eine Frage der eigenen Identität, wie jemand sich selbst definiert und jetzt plötzlich da ein Feindbild bekommt. Und man muss einfach auch dieses Feindbild zerstören. Einfach jetzt dagegen zu sein, das ist selbstverständlich, aber wie geht es dann weiter. Weil das ist ja ein Problem, das wird uns lange, lange begleiten, solange es eigentlich auf dieser Welt nicht auf halbwegs gerechte Lebensverhältnisse für alle hinausläuft.
    Köhler: Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller hat in der Flüchtlingsdebatte die osteuropäischen Länder auch kritisiert. In der Flüchtlingsfrage würde jeder nur national denken, sagt die aus Rumänien stammende Autorin. Meine Frage an Sie als jemand, der auch gerade in der Bundesrepublik bekannt geworden ist seit 1998 mit seinen simplen Stories über das Nachwendeleben der Deutschen auch in Thüringen: Entsteht da gerade so ein neuer Riss in Deutschland, eine mentale Teilung auch in der Sprache, wenn plötzlich wieder von Dunkel- und Helldeutschland gesprochen wird?
    Schulze: Na ja, so was darf man nicht mitmachen. Gegen solche Teilungen muss man schon angehen. Es ist natürlich jetzt nicht von der Hand zu weisen, dass gerade dieser Dresdener Raum, dass sich da einiges ballt. Aber das ist ja auch nicht von heute auf morgen gekommen. Da könnte man noch viel dazu sagen, wie so was entsteht. Aber natürlich ist das Verhalten auch osteuropäischer Länder in der Flüchtlingsfrage inakzeptabel. Aber als ich mit einer PEN-Delegation Anfang April im Innenministerium war und immerhin vom Staatssekretär da empfangen wurde und wo es auch gerade darum ging, dass es legale Möglichkeiten für Flüchtlinge gibt. Da war eigentlich die Haltung, ja wir tun eigentlich alles, Frontex ist prima und mehr müssen wir eigentlich nicht tun, und was wollt ihr, ihr seid aggressiv. Es brauchte eben - das klingt jetzt sarkastisch -, es brauchte einfach wieder diese Katastrophen, um da ein anderes Bewusstsein zu finden. Aber das kann es ja nicht sein, da es immer irgendwie Tausende Menschenleben braucht, damit sich was tut.
    Köhler: Die Bilder von der Prager Botschaft '89 scheinen irgendwie vergessen zu sein in manchen Teilen der Bevölkerung, oder?
    Schulze: Ja. Das wäre etwas sehr Notwendiges, dass man einfach mal die Sache umkehrt. Wie würden wir uns verhalten, wenn es bei uns so wäre, ja.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.