Donnerstag, 28. März 2024

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Außenpolitik
Expertise kontinuierlich abgebaut

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat gezeigt, dass es derzeit an Expertenwissen über die Region mangelt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde systematisch Expertise abgebaut, weil mit einem Bedeutungsverlust Russlands gerechnet wurde.

Von Simone Miller | 11.09.2014
    Krieg in Europa, ein Krieg zwischen Demokratien, viele hatten solch einen Fall ausgeschlossen, plötzlich rückt er bedrohlich nahe.
    Die Ukraine-Krise ist für Deutschland eine außenpolitische Herausforderung:
    Dank geographischer Lage, enger wirtschaftlicher Beziehungen und langjähriger diplomatischer Nähe kommt der Bundesrepublik eine zentrale Rolle beim Versuch zu, die Ukraine-Krise friedlich beizulegen.
    Doch ist Deutschland dieser Verantwortung überhaupt gewachsen? Reicht es, über "Putin-Versteher" zu lästern? Konkreter gefragt: Wie steht es eigentlich um die Russlandkompetenz im Deutschen Bundestag?
    Stefan Meister ist Programmleiter für Osteuropa bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, einem der wichtigsten Think-Tanks für Politikberatung im Land. Zur deutschen Russlandpolitik sagt er:
    "Sie ist sehr provinziell geworden in den letzten 15 Jahren, weil sie weder aus den Medien, noch aus den Hochschulen, aus dem wissenschaftlichen Bereich noch aus dem Think-Tank-Bereich wirklich die geballte Kompetenz hat, die sie bräuchte, um Entwicklungen im postsowjetischen Raum einzuschätzen. Und ich glaube, auch da kommt die Krise der deutschen Russlandpolitik insgesamt mit her, dass man über Jahre letztlich Wandel in dieser Region verschlafen hat, weil man systematisch Expertise abgebaut hat, in all diesen Bereichen gespart hat."Politische Modernisierung Russlands erwartetStefan Meister zufolge hat dieser Rückbau an Russlandkompetenz vor allem damit zu tun, dass man den Zusammenbruch der Sowjetunion mit einem Bedeutungsverlust Russlands gleichgesetzt hat. Gleichzeitig sei man davon ausgegangen, dass Russland sich nicht nur wirtschaftlich modernisieren werde, sondern auch politisch.Eine Fehleinschätzung, die auch Andreas Schockenhoff einräumt. Er ist ausgewiesener Russlandkenner und stellvertretender Vorsitzender für Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik der Unions-Bundestagsfraktion:"Ich habe es zu Beginn dieses Jahres für ausgeschlossen gehalten, dass es in Europa im Jahre 2014 noch militärische Eroberungen, Annexionen als Mittel der Durchsetzung von Interessen gibt und dass dann Außenpolitik auch oft reagiert und nicht Entwicklungen vorausnimmt, das muss uns klar sein, aber dann müssen wir auch uns darauf einstellen und entsprechend Expertise wieder aufbauen, wo wir sie nicht mehr haben."Auch noch RusslandexpertenWie es aktuell um die Russlandexpertise im Deutschen Bundestag bestellt ist, damit beschäftigt sich auch Gemma Pörzgen - sie ist Journalistin mit Osteuropa-Schwerpunkt."Was ich vor allem bedauere ist, dass im Bundestag eigentlich nur eine Handvoll Leute gibt, die so etwas sind wie Russlandexperten. Wenn man sich sehr lange mit Russland beschäftigt, würde man sich natürlich eigentlich wünschen, dass das Leute sind, die die Sprache kennen, die öfter im Land waren - das nicht nur zu politischen Visiten, sondern auch mit Eindruck der russischen Lebenswirklichkeit. Ich fürchte, wenn wir dieses Kriterium anlegen würden, dann schrumpft die Zahl nur noch auf zwei, drei."Zu dieser Handvoll Russlandkenner zählt neben Andreas Schockenhoff auch Marieluise Beck.Ein großes Problem für den außenpolitischen Nachwuchs sei es, so die Grünenabgeordnete, dass sich Außenpolitik in den Wahlkreisen nur schwer vermitteln lasse. Ein Abgeordneter auf Auslandsreisen werde von den Wählern häufig wahrgenommen werden als jemand, der sich nicht für die lokalen Belange einsetze:"Also das ist eine ganz ganz beängstigende Entwicklung, die wir hier bei uns haben, dass Außenpolitiker in den Wahlkreisen nicht gern gesehen werden und das führt sicherlich dazu, dass die Außenpolitik von jüngeren Kollegen von vornherein betrachtet wird als ein möglicher Karriereknick oder Karrierebruch sogar, also es ist ein Risiko, wenn man an das eigene Fortkommen denkt, sich in die Außenpolitik zu begeben."
    Der Mangel an Russlandkenntnis betreffe aber nicht nur die Parteien, so Politikberater Stefan Meister, sondern genauso sehr die Universitäten und Think Tanks. Sie spielen eine wichtige Rolle für das Niveau, auf dem in der deutschen politischen Öffentlichkeit diskutiert wird. Doch auch hier sei seit dem Ende des Kalten Krieges Regionalexpertise kontinuierlich abgebaut worden:
    Problem in der Regierung erkannt
    "Es gibt kaum Stellen, es ist in den Institutionen zu wenig und es ist für ein Land wie Deutschland auch erbärmlich, das muss man wirklich mal sagen, wie wenig die außenpolitischen Entscheidungsträger bereit sind, Geld in Forschung und in Politikberatung in Bezug auf Osteuropa oder auch insgesamt auch auf Außenpolitik zu finanzieren."
    Einer dieser außenpolitischen Entscheidungsträger ist Gernot Erler von der SPD. Im Auswärtigen Amt ist er Koordinator für gesellschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland. Er verrät, dass die Regierung das Problem jedenfalls erkannt hat. Denn aktuell werde tatsächlich über Neugründung eines eigenen Osteuropa-Think Tanks mit über zehn Stellen diskutiert:
    "Es gibt den Bedarf nach Expertise und wenn wir uns das leisten können, wenn das also möglich ist, dafür Mittel einzustellen, das wären natürlich nicht unerhebliche Mittel, wenn man also ein ganzes neues Institut vielleicht aufbaut, dann würde ich das persönlich begrüßen."
    Und so könnte die Ukraine-Krise immerhin ein Ergebnis haben: dass die deutsche Außenpolitik in Zukunft auf mehr Russlandexpertise bauen wird können.