Freitag, 19. April 2024

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Außergewöhnliche Orte
Geschlossene Städte und Papierpaläste

Alastair Bonnett, Professor für Social Geography an der Universität Newcastle, geht unserer Neigung für Orte nach, die außergewöhnlich sind. Die Welt ist voll von ihnen und gerade die vernachlässigten, prekären Orte bilden eine Gelegenheit, um über die oft paradoxen Bedürfnisse und wechselnden Beweggründe von Menschen nachzudenken.

Von Andrea Gnam | 02.03.2016
    Ein Schiff auf dem Trockenen, aufgenommen 1989. Im Vordergrund ein Kamel. Auf Grund extremer Wasserentnahme in den vergangenen Jahren zur Bewässerung von Baumwollplantagen in Usbekistan und Kasachstan versandet der einst viertgrößte See der Welt stetig.
    Bietet ein verstörendes Bild: Ein Schiff auf dem Trockenen des Aralsees in Usbekistan. (picture-alliance/Lehtikuva)
    Menschen sind, folgt man Alastair Bonnett, eine Spezies, die eigene Orte innerhalb selbstgeschaffener Grenzen liebt und verteidigt, gleichzeitig aber das Verlangen verspürt, fremde Grenzen zu überwinden, um zu weiteren Orten vorzudringen. In seiner schön zu lesenden Essaysammlung widmet sich Bonnett dieser widersprüchlichen Anlage, die uns auf unserem Ort beharren, gleichzeitig sich aber auch vom Noch-Unbekannten und Unerforschten locken lässt. Orte, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können durchaus temporär sein, wie das kindliche Versteck im Gestrüpp, Inseln, die auf den Karten auftauchen und wieder verschwinden oder Festivals mit selbstorganisierten Regeln, Tanz und Körperbemalung.
    Aber auch das Bedürfnis nach Abschottung hat für Bonnett in den Verstecken der Kindheit seine Wurzeln: der Männern vorbehaltene Berg Athos, der zum großen Kloster erklärt wird oder Mikronationen auf Plattformen im Meer wie das umstrittene "Sealand". "Geheime Städte" in der ehemaligen Sowjetunion, die errichtet wurden, um Rüstungsgüter zu produzieren, und die auf keiner Karte verzeichnet waren, galten bei ihren Bewohnern als privilegierte Lebensräume, obwohl sie die bewachte Stadt nicht ohne Erlaubnis der Behörden verlassen durften, geschweige denn Besuch von außen empfangen:
    "Die geschlossenen Städte nämlich gehörten in der UDSSR zu den finanziell am besten ausgestatteten und prestigeträchtigsten Siedlungen, dort gab es gut bezahlte Arbeitsplätze, die ambitionierte Techniker und Wissenschaftler anlockten. Wer auf sozialen Aufstieg aus war, der wollte dorthin."
    Die Imagination von herrschaftsfreien Räumen
    Die Bewohner von Selenogorsk, einer Stadt, die 1950 zwischen Hügeln und Wäldern einzig zur Herstellung von Atomwaffen gegründet und erstmals in ihrer Existenz 1992 offiziell bestätigt worden war, votierten nach der Öffnung dafür, den Status einer "geschlossenen Stadt" beizubehalten. Die Verbindung zu den "gated communities" der Reichen liegt auf der Hand und man möchte hinzufügen, dass Reichtum und idyllische Lebensformen oft auf fragwürdigem, bedrohlichen Fundament gründen. Die andere Seite zum Bedürfnis nach Abschottung bildet die Faszination, die vom scheinbaren Niemandsland ausgeht, kleinen Enklaven oder auch nur Räumen, in denen die Grenzposten kilometerweit auseinander liegen. Leicht lässt sich die Imagination dazu verleiten, hier von herrschaftsfreien Räumen auszugehen. Die Realität sieht im Falle politischer Enklaven, für die niemand zuständig ist, anders aus: Die Bewohner werden vom umgebenden Staat administrativ schikaniert und es mangelt an notwendiger Infrastruktur und Versorgung. Ein ähnliches Phänomen zeigt sich bei sogenannten "wilden" Städten, wie der von Piraten beherrschten, völlig verarmten und zusammengebrochenen Stadt Hobyo in Somalia. Noch schlimmer stand es in den fast 200 Enklaven zwischen Bangladesch und Indien, den sogenannten "Papierpalästen", Chitmahals, die auf fragwürdige Fürstendeals des frühen18. Jahrhunderts zurückgehen; die jüngsten Entwicklungen im wechselseitigen Austausch zwischen den Staaten sind bei Bonnett indes noch nicht verzeichnet:
    "Mein wohliger Glaube an die Autonomie von Gemeinschaften, der durch die Trostlosigkeit von Hobyo bereits erschüttert worden war, ging beim Blick auf die Chitmahals endgültig verloren. (...) Die Papierpaläste sind Inseln der Freiheit vom Staat, aber auch Gefängnisse im Staat. Es ist und bleibt paradox: Staatliche Regierung ist essenziell für unsere Freiheit, doch sie bedrängt uns auch und verlangt, dass wir uns ihr unterwerfen."
    Geisterstädte und Industrieruinen
    Neben den 47 Beispielen, die Bonnett weltweit anführt und soweit möglich mit den Koordinaten von Google Earth versieht, sind es die weiterführenden Überlegungen, die Bonnetts Buch auszeichnen. So zum Beispiel, wenn er in einem Kapitel über unbewohnbare Orte, wie das vom Asbest-Anbau verseuchte Wittenoom in Australien, den Vorschlag unterbreitet, man solle sie nicht einfach von der Karte streichen und sämtliche Hinweisschilder zerstören, sondern sie als Gedenkstätte für die "Folgen von Gier und Ignoranz" verstehen:
    "Schafft man sie aus der Welt, so bleiben wir in einer auf trügerische und wenig überzeugende Weise geschönten Landschaft zurück. Wittenoom sollte wie ein Denkmal behandelt werden und die Art von Aufmerksamkeit erhalten, die gegenwärtig Schlachtfeldern vorbehalten ist – allerdings aus sicherer Entfernung."
    Könnte ein solches Gedenken der mehr denn je verbreiteten Terror-Praxis, kulturell bedeutende Orte vom Erdboden zu tilgen, entgegentreten, mit der die stets auch an die Vergangenheit gebundene Identität von Menschen zerstört werden soll? - ließe sich, mit Blick auf andere Kapitel, hier weiterfragen. Und wie wäre die durch Raubbau entstandene Aralkum-Wüste am entwässerten Aralsee zu betrachten, der gesäumt ist von "Geisterstädten, verlassenen Fischfabriken und rostenden Bootswerften"? - Hier verhindert die separate Behandlung der Essays ein wenig die stringente Gesamtschau. Und sind Kunstprojekte wie das von Alan Sonfist, der in New York auf einer 1000 m² großen Landfläche, Pflanzen aus der Zeit vor dem 17. Jahrhundert kultiviert, eine sinnvolle Form der Rekonstruktion eines Naturzustandes? - Bonnett verneint das eher. Orte sind wie Landschaft auf lange Sicht hin immer in Bewegung, auch wenn unfertig gebliebene Städte mit Bauruinen uns Erwachsene verunsichern:
    "Welche Bedeutung ein Ort jeweils hatte, lag ganz in unserem Ermessen und wurde ständig verändert", schreibt Bonnett im letzten Kapitel über die prägenden Verstecke seiner Kindheit.
    Alastair Bonnett: "Die seltsamsten Orte der Welt. Geheime Städte, wilde Plätze, verlorene Räume, vergessene Inseln", aus dem Englischen von Andreas Worthensohn, C.H. Beck Verlag München, 296 Seiten, 19.95 Euro