Freitag, 29. März 2024

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Ausstellung
Bildgeschichten voller Schalk und Ironie

Natürlich gab es den Begriff noch nicht, aber vom Prinzip her sind die gezeichneten Bildergeschichten von Leonaert Bramer aus dem 17. Jahrhundert die Vorläufer unserer Graphic Novels. Die Münchner Pinakothek der Moderne stellt sie unter dem Titel: „Bettler, Diebe, Unterwelt“ aus.

Von Julian Ignatowitsch | 21.12.2013
    Die Szene ist in schnellen, grauen Pinselstrichen gezeichnet, ja buchstäblich aufs Blatt geworfen: Sie zeigt einen alten Mann mit Stock und Hut, wie er sich den Kopf an einem Monolithen stößt und vom harten Aufprall zurückgeworfen wird. Eine Hand reißt er nach oben, das Gesicht ist so schmerzverzerrt, dass ihm jegliche Kontur fehlt. Daneben: ein junger Mann, in die Knie gestützt mit spöttischer Miene.
    "Ganz genau dem harten Pfeiler gegenüber stellte ich ihn auf. Nun sprang ich über den schmalen Bach, stellte mich hinter dem Pfeiler auf und rief ihm zu: "Jetzt springt so weit, wie ihr könnt." Und kaum hatt' ich's gesagt, springt der Alte, wie ein Bock der stoßen will, mit aller Wucht über das Wässerchen und grad mit der Stirn gegen den Pfeiler. Ich hört' es dröhnen, wie wenn ein Riesenkürbis zerplatzt wäre. Halbtot fiel der Blinde auf den Rücken."
    "Lazarillos Rache am Blinden" heißt dieses Kapitel aus dem spanischen Schelmenroman "Leben und Abenteuer des Lazarillo de Tormes". Illustriert hat es Leonaert Bramer im Jahr 1646. Die Zeichnung ist eine von 73 aus dem "Lazarillo"-Zyklus, der aktuell in der Münchner Pinakothek der Moderne ausgestellt ist. Seiner Zeit war das Buch in Europa vielerorts bekannt. Noch heute ist es in Spanien so beliebt, wie hierzulande die Märchen der Brüder Grimm. Außerdem sind 61 weitere Bramer-Blätter zu Francisco de Quevedos literarischem Werk "Los Suenos", die Träume, zu sehen.
    Bild und Schrift als sich ergänzende Ausdrucksformen – Bramer war einer der ersten Künstler, der diese Kombination ästhetisch zu verarbeiten wusste. In der Münchner Ausstellung sind nur die Bilder zu sehen – und der Text ist – für den, der möchte – über einen Audioguide zu hören. Die Abbildungen eint der groteske, oft unflätige Inhalt und die zwielichtigen Protagonisten, vom Gauner bis zum Hochstapler. Der Stil mutet sehr modern an. Wie Comicstrips sehen die handgroßen Zeichnungen aus: Schemenhaft, humorvoll und so komponiert, dass die Narration im Mienen- und Gestenspiel der handelnden Personen erkennbar ist. 17. Jahrhundert? Vielmehr fühlt man sich an Medien und Kunstformen des 20. Jahrhunderts erinnert, findet auch Kurator Dr. Achim Riether:
    "Es wurde bereits in den 20er-Jahren als kinematografisch beschrieben. Also er macht das, was ein Storyboard heute bietet: einen Überblick über die wichtigen Scharnierstellen, die zu lesen sind und die ein Fortlaufen der Handlung ermöglichen – und von daher hat man wirklich einen veritablen Vorgänger der Graphic Novel."
    Anders, als die heutigen Massenbilddrucke, waren Bramers Zeichnungen – in einer Zeit, in der der Buchdruck mehr und mehr Verbreitung fand – aber Unikate: Einzelanfertigungen für ein ausgewähltes, gebildetes Publikum. Das erklärt auch die zahlreichen religiösen und kunsthistorischen Verweise. In der Episode, in der Lazarillo von einem Bekannten seiner Kleider beraubt wird, gleicht seine Darstellung der des "Sterbenden Senecas" aus Rubens' gleichnamigem Gemälde. Die Ikonografie der "Grablegung Christi" greift Bramer bei der Beerdigung eines verstorbenen Einsiedlers auf. Zunächst, wie es scheint, eine plausible Parallelisierung, auf den zweiten Blick jedoch ein blasphemischer Akt:
    "Zu dem Zeitpunkt des betrachtenden Lesens weiß man noch nicht, dass dieser Einsiedler gar nicht so fromm war und in der Stadt eine Parallelexistenz geführt hat. Da gibt es nämlich eine Familie, eine Frau, Kinder und eine Schwiegermutter - und in dem Wissen bekommt diese hoch sakrale Grablegung eine ganz andere Note."
    Nämlich die Note der Ironie, wie sie dem Besucher allzu oft aus den Bildern entgegen spottet. Der "Lazarillo" stand seinerzeit auf dem Index und Bramers Bebilderungen waren für ihn demzufolge durchaus ein Risiko. Auf seinem Selbstbildnis porträtierte sich der Maler übrigens mit keckem Blick und hochgezogenen Mundwinkeln, eben so als hätte er den Schalk im Nacken.