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Ausstellung "Deutsche Mythen seit 1945"
"Wir Deutschen sehen uns als Weltmeister"

In Leipzig startet die Ausstellung "Deutsche Mythen seit 1945". Sie zeigt beispielsweise den VW Käfer oder die Friedensnobelpreismedaille für die Europäische Union. Daniel Kosthorst, Kurator der Ausstellung, hält Mythen wichtig dafür, Identität zu schaffen und vielleicht die Zukunft besser zu meistern. Künstlich herstellen ließen sich Mythen allerdings nicht.

Daniel Kosthorst im Gespräch mit Dina Netz | 15.06.2016
    Ein VW-Käfer mit historischem "H"-Kennzeichen bei einer Ausfahrt.
    Ein VW-Käfer: Symbol für das Wirtschaftswunder nach dem Zweiten Weltkrieg. (imago/Rüdiger Wölk)
    Dina Netz: "Das ist doch ein Mythos". So sagt man heute, wenn man die Richtigkeit von etwas infrage stellen möchte. Im Sinne von: "Das ist doch ein Gerücht" oder eine wenig glaubwürdige Legende. Der Begriff "Mythos" wandelt sich offenbar gerade, denn laut Duden ist ein Mythos eine "legendäre, glorifizierte Person oder Sache". Und in diesem klassischen Sinne setzt sich jetzt eine Ausstellung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig mit "Deutschen Mythen seit 1945" auseinander.
    - Konzipiert hat sie unter anderem Daniel Kosthorst, und ich habe ihn gefragt: Mythen im ursprünglichen Sinne sind in der Regel sehr, sehr alte Geschichten oder Figuren – mich erstaunt eigentlich, dass Sie nun Dinge unter "mythisch" fassen, die noch nicht einmal 100 Jahre alt sind. Welche Kriterien mussten die Dinge erfüllen, damit Sie sie als "Deutscher Mythos" definieren?
    Daniel Kosthorst: Ja, wir haben uns natürlich Gedanken gemacht über den Mythenbegriff. Und der ist in der Tat relativ schillernd. Das was Sie am Anfang genannt haben, ist ein Mythos-Begriff, der modernerer Natur ist. Die klassischen Mythen sind eigentlich historische Erzählungen der Erinnerung. Sie sind Erzählungen der kollektiven Erinnerung. Sie verdichten die unüberschaubare Geschichte zu sinnstiftenden Geschichten. Und sie sind damit Fundamente von Gruppen, der Identität von Gruppen oder auch von Nationen, und das ist eigentlich unser Zugriff. Es geht um nationale Erinnerung.
    Netz: Vielleicht nennen Sie ein paar Beispiele, wie Sie die nationale Erinnerung, die deutschen Mythen seit '45 zeigen.
    Kosthorst: In Deutschland haben wir ja einen Sonderfall, insofern als die vielen alten Mythen, die in anderen Ländern und Nationen noch erzählt werden, bei uns abgebrochen sind. '45 durch den Missbrauch durch die Nationalsozialisten haben wir sozusagen einen neuen Mythenhaushalt und seit '45 erzählen wir uns etwa in Westdeutschland die Geschichte vom Wiederaufstieg seit der Stunde null. Mit Fleiß und kräftigen Händen und Ingenieursgeist haben wir das Wirtschaftswunder hergestellt, sozusagen ganz in eigener Leistung. Für die DDR gibt es natürlich auch Mythen, die allerdings gesetzt worden sind vom SED-Regime und nicht auf dieselbe Resonanz in der Bevölkerung gestoßen sind. Und das zeigen wir auch in der Ausstellung. Wir wollen nicht nur vorstellen, welche Mythen es gibt, sondern wir wollen sie auch befragen, wo kommen sie eigentlich her, welche Anteile an historischer Wahrheit stecken drin, es stecken immer historische Wahrheiten drin. Aber es ist eben auch so, dass solche Mythen wie Erinnerungen überhaupt auch Dinge wegerzählen, übergehen, damit ein Sinn entsteht, der die Gegenwart erklärt und Zuversicht für die Zukunft schafft.
    Netz: Jetzt haben Sie die Mythen, die Sie seit 1945 bis zur Wende darstellen, aufgezählt oder ein paar Beispiele dafür erwähnt. Das sind ja im Wesentlichen west- und ostdeutsche Mythen. Was sind denn Mythen jüngeren Datums?
    Kosthorst: Es gibt durchaus auch aktuelle Mythen, die wir heute noch erzählen. Übrigens zählt selbst das Wirtschaftswunder dazu. Wenn wir von der Kanzlerin hören, wir schaffen das, dann ist auch das sicherlich eine Anknüpfung an diesen Mythos, dass, wenn wir gemeinsam anpacken, dann auch etwas gemeinsam hinbekommen. Aber es gibt natürlich auch Mythen wie die, dass wir die Weltmeister im Umweltschutz sind oder die vorbildlichsten Europäer. Und natürlich jetzt ganz aktuell sind wir auch eine siegreiche Fußballnation und die großen Fußballspiele sind gewissermaßen auch Zäsuren unserer nationalen Geschichte, jedenfalls dann, wenn man sich für den Fußball doch interessiert, und das tun natürlich die meisten.
    Netz: Es ist ja auch sicher kein Zufall, dass die Eröffnung der Ausstellung jetzt zeitlich zusammenfällt mit der Fußball-Europameisterschaft. - Man kann ja aus Mythen was über die nationale Identität ablesen. Das haben Sie eingangs schon gesagt. Was sagt uns denn dann Ihre Ausstellung über die deutsche Identität?
    Kosthorst: Wir Deutschen sehen uns als Weltmeister
    Kosthorst: Ja, ich habe es vorhin schon angedeutet. Wir Deutschen sehen uns natürlich als Weltmeister gewissermaßen. Wir sind Weltmeister im sportlichen Sinne, wir sind aber auch Weltmeister im Umweltschutz, wir sind Weltmeister in der Aufarbeitung unserer Geschichte. Wir sind Vorreiter für den Frieden in der Welt, weil wir uns diese Selbstverpflichtung auf den Frieden seit unserer schwierigen Geschichte ja doch ganz besonders stellen. Das sind so Erzählungen, gewissermaßen wie "Ein Hoch auf uns", dieser berühmte Song von Bourani zum Weltmeisterschaftstitel 2014, die uns natürlich in einem guten Licht darstellen. Die uns aber auch eine Identität verschaffen, mit der wir den Herausforderungen der Zukunft vielleicht besser begegnen können.
    Netz: Ein Mythos, das ist ja erst mal ein sehr abstrakter Begriff. Anhand welcher Objekte, anhand welcher Ausstellungsgegenstände zeigen Sie denn diese Mythen?
    Kosthorst: Das ist natürlich auch gar nicht so einfach für einen Ausstellungsmacher. Wir haben ja hier ein Thema, das man nicht direkt einfach ausstellen kann, sondern es ist eine Art Metathema, eine Reflexion über Geschichte. Und wir haben versucht, anschauliche Objekte zu finden, die diese Mythen in irgendeiner Weise transportieren, die sie verdichten. Da ist etwa ein wichtiges Objekt für uns natürlich der VW Käfer. Das ist aber ein besonderer, nämlich das Ersatzfahrzeug für den eine millionsten Käfer, der 1955 mit großem Pomp in Wolfsburg gefeiert wurde. Wir haben das eine Million und erste Modell, das natürlich den Aufstieg Deutschlands und der Exportindustrie sehr schön fasst. Aber wir haben auch für Europa, den Friedensnobelpreis von 2012, diese Medaille, die die EU bekommen hat. Und wir haben bei der EU-Kommission angefragt und gesagt, diesen Preis haben doch alle Europäer bekommen. Wollen wir den nicht auch mal den Europäern zeigen? Und dann haben die ja gesagt und wir haben ihn Gott sei Dank auch bekommen und können ihn in der Ausstellung zeigen. Das sind einfach zwei jetzt mal prominente Beispiele.
    Netz: Im Ankündigungstext Ihrer Ausstellung schreiben Sie etwas, was ich sehr interessant fand, nämlich: "Mythen können den Zusammenhalt von Gesellschaften befördern. Deshalb brauche Europa dringend gemeinsame Mythen." Wie kann man denn solche Mythen schaffen?
    Kosthorst: Man kann das nicht künstlich herstellen. Das ist eindeutig so. Vielleicht ergibt es sich ähnlich wie bei den Nationen auch einfach durch das gemeinsame Bestehen von Herausforderungen, in Bewährungsproben. Es müssen ja nicht gleich gewalttätige Dinge sein, sondern wir haben ja auch friedliche Herausforderungen zu bestehen. Das wäre eine Chance, aber machen kann man das nicht.
    Netz: ... sagt Daniel Kosthorst vom Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig. Dort ist jetzt die Ausstellung "Deutsche Mythen seit 1945" zu sehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Ausstellungsinfos:
    "Deutsche Mythen seit 1945" vom 15. Juni 2016 bis 15. Januar 2017, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, Grimmaische Str. 6, 04109 Leipzig, Eintritt frei
    https://www.hdg.de/leipzig/