Mittwoch, 24. April 2024

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Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin
Michael Beutler: Moby Dick

Von Carsten Probst | 19.04.2015
    Der Titel ist Ausdruck schierer Ehrfurcht: Moby Dick, Inbegriff des weißen, unbezwingbaren Monstrums, das alle ins Verderben zieht, die seiner ansichtig werden. Die riesige weiße Halle des Hamburger Bahnhofs mit ihren 3.000 Quadratmetern lichter Ausstellungsfläche kann einem in der Tat den Horror Vacui lehren, wenn man sie leer vor sich sieht. Um als Künstler hier nicht unterzugehen, musste Michael Beutler sich unbedingt etwas einfallen lassen. Üblicherweise funktionieren seine Installationen in kleineren Ausstellungsräumen am besten. Diese lassen sich authentischer in Werkstätten verwandeln, in denen das Publikum sich dann an schrägen, überdimensionierten Konstruktionen vorbeischiebt, unversehens über Haufen von armdicken Stoffresten trampelt oder über herumliegende Bretter und Werkzeuge stolpert.
    Mit Helfern bedient der Künstler zum einen einen gewaltigen, selbst gebauten Webstuhl, der aus Stoffresten einen endlosen Flickenteppich produziert, der den Ausstellungsraum buchstäblich zu ersticken scheint. Andere Altmaterialien werden entweder sorgsam zu Bündeln verschnürt und zu minimalistischen Möbeln zusammengestückt. Zuweilen baut Beutler eigene flüchtige Architekturen in die Räume, wie im Jahr 2007 im Frankfurter Portikus aus bunt leuchtendem Blumenpapier, das er auf Estrichgitter geklebt hatte. Oder es wird, wie jetzt im Hamburger Bahnhof, fortlaufend weitergehämmert, gesägt und gehobelt – Arbeiten als ein ständiger Wechsel von Zuständen, wie der gebürtige Oldenburger es nennt, der zwischen 1997 und 2003 an der Städelschule bei Thomas Bayrle studiert hat und inzwischen zu den wichtigsten Bildhauern und Installationskünstlern seiner Generation in Deutschland gehört.
    Der Verzicht auf handwerkliche Fertigproduktion ist Programm. Wenn etwas benötigt wird, soll es in der Regel erst selbst hergestellt werden, das gilt auch für die einen oder anderen Werkzeuge, die für die Herstellung notwendig sind. Beutler kehrt mit seinen Arbeiten an den Nullpunkt der Produktion zurück und demonstriert seinem Publikum, wie abhängig es von der vorproduzierten Warenwelt ist. Was aus dem Blickwinkel der digitalisierten Gesellschaft als rückständig gilt – für Beutler ist dieses Handgemachte, Improvisierte, Unfertige ein Mittel der Bewusstseinserweiterung, nicht der Nostalgie. In ihr scheint die alte Schopenhauersche Erkenntnis auf, dass technischer Fortschritt in erster Linie Entmündigung bedeutet.
    Dass Beutler die Riesenhalle des Hamburger Bahnhofs zur Bearbeitung überlassen wurde, lässt sich als Zeichen besonderer Wertschätzung verstehen. Auf ein solches Risiko einer unberechenbaren Konstruktion hat sich Udo Kittelmann als Direktor des Hauses in diesen hochrepräsentativen Sälen jedenfalls noch nie eingelassen, und das ist dieser Schau anzumerken. Anders als bisher besteht Beutlers Arbeit hier nicht aus einer zusammenhängenden Großinstallation, sondern aus einer Art Potpourri von insgesamt 18 verschiedenen Arbeiten, die zum Teil bis in die Zeit seines Studiums zurückreichen. Wirklich neu und eigens für die Halle des Hamburger Bahnhofs entstanden sind zunächst nur drei temporäre, geschwungene Strukturen, die die Säulen und Bögen des einstigen Bahnhofs aufnehmen und zugleich eine Kulisse historischer Lokomotivschuppen heraufbeschwören, denen ja von jeher das Improvisierte und Handwerkliche anhaftete. Beutler und sein Team haben sie aus Pecafil gebaut, das man vor allem als Schalungsmaterial beim Betonbau kennt und das aus einer festen Polyethlenfolie besteht, die auf einer Stahlmatte aufgezogen ist. Die rohe Ästhetik dieses Materials verleiht dem Hamburger Bahnhof unweigerlich die Anmutung all jener Großbaustellen, die sich derzeit nebenan rund um das Berliner Hauptbahnhofsareal versammelt haben.
    Die lose Ansammlung früherer Arbeiten würde man zutreffend weniger als Retrospektive, besser als Sortiment eines Materiallagers beschreiben. Sie erinnern zwar durch die verwendeten Stoffe und Formen an ihre Ausgangszustände, aber sind hier doch im mehr oder weniger zerlegten oder verwandelten Zustand anzutreffen. Es ist jedenfalls trotz liebevoll gezeichnetem Lageplan der Fantasie des Betrachters überlassen, wo eine Arbeit aufhört und eine andere beginnen soll. Wer Beutlers Atelier gesehen hat, weiß, dass es dort nicht wesentlich anders aussieht. So gesehen scheint es tatsächlich, als hätte Käpt'n Beutler tatsächlich den Weißen Wal erlegt, ohne unterzugehen.