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Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt
Spaziergang durch Carl Einsteins Gedankenwelt

Carl Einstein war einer der bekanntesten Kunstkritiker der Weimarer Republik. Im Haus der Kulturen der Welt in Berlin werden jetzt sowohl Schriften Einsteins als auch Gemälde und Fotografien aus seiner Zeit gezeigt - sinnlich intelligent gelöst, findet DLF-Kunstkritiker Carsten Probst.

Von Carsten Probst | 15.04.2018
    Ausstellungsansicht bei der Eröffnung der Ausstellung "Neolithische Kindheit - Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930" am 12.4.2018 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
    Ausstellungsansicht bei der Eröffnung der Ausstellung "Neolithische Kindheit - Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930" (© Laura Fiorio / HKW)
    Carl Einstein, 1885 in Neuwied am Rhein geboren, entstammte einer deutsch-jüdischen Familie, verbrachte seine Kindheit in Karlsruhe und studierte unter anderem Kunstgeschichte und Philosophie in Berlin. Früh kam er mit Autoren und Künstlern der modernen Avantgarde in Kontakt, schrieb als einer der ersten Kunstwissenschaftler über den Kubismus und avancierte nach dem Ende des ersten Weltkrieges, in dem er verwundet worden war, zu einem der bekanntesten Kunstkritiker der Weimarer Republik – mit seiner mehrfach aufgelegten Schrift "Die Kunst des 20. Jahrhunderts", vor allem aber mit überaus fortschrittlichen, für die damalige Zeit bisweilen radikalen Thesen. Diese machen ihn als Gewährsmann für die beiden Ausstellungskuratoren im Haus der Kulturen der Welt, Tom Holert und Anselm Franke gerade für die heutige Gegenwart so interessant. Tom Holert beschreibt Einstein so:
    "Er war immer ein äußerst unbequemer, auch polemischer Denker, der sich vor allem in seinem Urteil über Kunst nie zurückgehalten hat und auch sehr scharf und sehr scharfsinnig geurteilt hat und ein von Kunst selbst äußerst enttäuschter Kunsthistoriker und Kunstkritiker, teilweise eben dadurch, dass er sehr entschieden darauf hinweist, dass ein Großteil der Menschheit durch diese Geschichte der Kunst seit dem 18. Jahrhundert überhaupt nicht bedacht ist."
    Wandfüllende Entwürfe Einsteins
    In seinem Großprojekt, dem "Handbuch der Kunst", einer auf fünf Bände angelegten Funktionsgeschichte der Weltkunst, versuchte Einstein die Grundlage einer alternativen Kunstgeschichte zu legen, die sämtliche Weltkulturen und ihre je eigene Kulturgeschichte einschließen sollte. Allein das Projekt konnte nie realisiert werden, weil Einstein nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg und auf der Flucht vor den deutschen Besatzern Frankreichs nahe der spanischen Grenze Selbstmord beging.
    In der Ausstellung findet man wandfüllende Entwürfe Einsteins zu seinem monumentalen Werkfragment und eine Auffächerung seiner Bezüge zu verschiedensten zeitgenössischen Denkströmungen und Autoren – wie sich ohnehin die ganze Ausstellung als Einladung der Kuratoren versteht, im Kopf und in der revolutionären Gedankenwelt Carl Einsteins spazieren zu gehen und seine verblüffende Nähe zur heutigen Zeit zu erleben.
    "Eben weil es Einstein immer darum ging, die kolonialistisch geprägte Unterscheidung von "modern" und primitiv" zu unterwandern, zu verschieben und das, was in der Zeit als das zurückgeblieben-archaische, andere Primitive galt, in die Moderne selbst hereinzupflanzen", sagt Ko-Kurator Anselm Franke, der Ideengeber für dieses überaus ambitionierte Ausstellungsprojekt, das sich glücklicherweise nicht scheut, sein Publikum auch mit schwierigen Begriffen und viel Denkarbeit zu konfrontieren.
    Der verschroben-träumerisch anmutende Titel der Ausstellung zum Beispiel, "Neolithische Kindheit", ist einer Schrift Einsteins über den Bildhauer Hans Arp entlehnt, an dessen Werk er die Verschränkung von Moderne und Primitivität festzumachen versucht. Arps elementare abstrakte Skulpturen betrachtete Einstein als Wiederholung des "prähistorisch" anmutenden Spiels von Kindern. Und das bedeutete, dass sich Kunst in ihrer Entstehung jeder geschichtlichen Einordnung, jedem Kanon und jeder Wertung wegen ihrer kulturellen Herkunft entzieht. Ähnliches konstatiert Einstein im Gegenzug für seine ästhetischen Untersuchungen an der damals sogenannten "Negerplastik": Einsteins Werk wollte abrechnen mit dem eurozentrischen, kolonialistischen Denken seiner Zeit, und er wirkt gerade dadurch auch heute sehr aktuell.
    Epochales Gedankenkonstrukt in sinnlich erfahrbarer Ausstellung
    Für die Kuratoren Tom Holert und Anselm Franke stellte sich allerdings die Frage, wie man solch ein epochales Gedankenkonstrukt in einer sinnlich erfahrbaren Ausstellung umsetzt. Das Ergebnis ist immer noch eine Herausforderung. Über mehrere Säle verteilt kann man mit einer Art Betriebsanleitung in der Hand viele Vitrinen mit zeitgenössischen Schriften und Archivmaterialien Einsteins aus der Berliner Akademie der Künste begutachten.
    In der großen Ausstellungshalle des Hauses der Kulturen schließlich wandert man über Stege an einer ausladenden Wand mit vielen Gemälden und Fotografien aus Einstein Zeit vorüber und verschafft sich so gleichsam einen Überblick über die unzähligen Vernetzungen im Denken dieses Kunstgeschichtspioniers. Das ist zwar sinnlich intelligent gelöst – doch es verlangt Besucher, die sich denkend auf Bilder einlassen mögen. Solche mutigen Ausstellungskonzepte im großen Stil sind nach wie vor rar gesät. Schon deshalb verdienen sie besondere Beachtung.