Angela Steidele: "Anne Lister"

Mutiger als jeder Gentleman

Buchcover "Anne Lister" von Angela Steidele, im Hintergrund ein englisches Herrenhaus
Buchcover "Anne Lister" von Angela Steidele, im Hintergrund ein englisches Herrenhaus © Verlag Matthes & Seitz / imago
Von Verena Auffermann · 29.11.2017
Kämpferisch und unerschrocken: Mit "Anne Lister" porträtiert Angela Steidele eine Frauen liebende, bildungshungrige englische Landadelige. Die Autorin kombiniert geschickt Tagebücher und Briefe mit eigenen Mutmaßungen und Nachforschungen - zu einer "erotischen Biografie".
Es gibt mehrere Gründe, sich für das Leben der 1791 im englischen Halifax geborenen Landadligen Anne Lister zu interessieren. Sie war gebildet, emanzipiert, eine homoerotische Liebende, eine furchtlose Reisende und hinterließ 24 ordentlich gebundene Tagebuchhefte und Journale, teils in griechischen Lettern, teils in einer Geheimschrift verfasst. Mit der Dechiffrierung und Erforschung haben sich Generationen von Philologinnen beschäftigt.
Angela Steidele hat nun das reichhaltige Material in einer "Erotischen Biografie" zusammengefasst. Ein Zeitzeugnis, das dem Konzept der "keuschen", romantischen Frauenfreundschaft und den Zwängen der prüden vorviktorianischen Zeit mit jeder Eintragung widerspricht.

Eine hemmungslose und erstaunliche Zeitzeugin

Angela Steidele, die in mehreren ihrer Publikationen historische Quellen benutzt, um Liebesgeschichten Gleichgeschlechtlicher im 18. und 19. Jahrhundert zu erzählen, stellt mit Anne Lister eine in vieler Beziehung hemmungslose und erstaunliche Zeitzeugin vor: Eine von Kindheit an vehemente, eigenständige Person, die sich selbst beibrachte, was ihr die Gesellschaft verwehrte, zum Beispiel das Erlernen des Griechischen, um Sappho im Original lesen zu können, oder die Mathematik.
Stark, durchsetzungsfähig und unerschrocken, beginnen ihre erotischen Abenteuer im Internat mit einem Mädchen indischer Abstammung. Detailliert und ohne Scham notiert sie in ihren Tagebüchern die Strategien der Werbung und Eroberung, sexuelle Praktiken homoerotischer Liebe und die Skala möglicher und tatsächlicher Empfindungen und nannte sich selbst "ein echtes Früchtchen".
Angela Steidele fügt den Liebesgeschichten Beschreibungen damaliger Lebensumstände und Bedingungen an und erklärt mit unübersehbarer Freude, die überlebensnotwendige Kombination von Liebe und Geld. Unverheiratete Frauen mussten Überlebensstrategien finden, auch wenn sie berechnend waren. Geschickt zu erben, oder vermögende Liebhaberinnen wie Ann Walker zu gewinnen, war ein Ersatzberuf.
Dass Passagen dieser "Erotischen Biografie" an die Romane von Emily Brontë erinnern, ist nicht verwunderlich. Brontë lebte in der Nähe von Halifax und könnte von der bewegten Geschichte Anne Listers gewusst und im Roman "Sturmhöhe" verarbeitet haben.

Bildungshungrige Frau und vehemente Abenteuerin

Angela Steidele kombiniert geschickt Tagebücher und Briefe mit eigenen Mutmaßungen und Nachforschungen. Es entsteht das umfassende Bild einer Gesellschaft zu Beginn der industriellen Revolution. Die draufgängerische und neugierige Anne Lister war an Kampfgeist und Mut jedem Gentleman überlegen. Ein Buch über eine wilde, liebes- und bildungshungrige Frau und vehemente Abenteuerin, deren Leben im Alter von 49 Jahren im Georgischen Kutaisi auf dem Weg zum Schwarzen Meer endete.

Angela Steidele: "Anne Lister. Eine erotische Biografie"
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017
326 Seiten, 28,00 Euro

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