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Auswege ins Verhängnis

Sein Name weist den amerikanischen Autor Nam Le als Abkömmling vietnamesischer Immigranten aus. Dennoch schreibt Le keine "Ethnoliteratur"; Literatur, die mit Hautfarbe und Biografie kurzgeschlossen wird, den Autor also auf das Thema Vietnamkrieg, Umerziehungslager und die Flucht der Boatpeople verpflichtet.

Von Antje Strubel | 20.01.2009
    Le sprengt dieses enge Koordinatensystem, in dem der Literaturbetrieb und die Leser einen nicht westlichen, nicht weißen Autor allzu gern verorten, und schreibt eine Literatur, die sich in der Welt verankert. Seine Erzählungen spielen in Südamerika, in Australien, in Japan, im Iran und auch - aber eben nicht nur - auf einem Flüchtlingsboot, das zwischen Nordvietnam und der Malaysischen Küste verkehrt.

    Während seines Studiums am renommierten Iowas Writers' Workshop wird Nam Le genug Erfahrungen mit den einseitigen Erwartungen des Publikums und der Autorenkollegen gemacht haben, um sich so vielschichtig wie möglich zu präsentieren und seine Erzählungen so weit wie möglich von der persönlichen Geschichte entfernt anzusiedeln. Das gelingt ihm ausgesprochen gut. Was auch in der Übersetzung Sky Nonhoffs deutlich wird. Obwohl Les Erzählung in den verschiedensten Ländern und vor den unterschiedlichsten politischen Folien spielen, verschwimmen sie nicht in "globaler" Beliebigkeit.

    Es sind Erzählungen, die ihre Figuren in Situationen zwingen, aus denen es keinen Ausweg gibt, es sei denn in die Katastrophe. Figuren, die sich verzweifelt über Wasser zu halten versuchen, obwohl alles gegen einen guten Ausgang spricht, die sich im Angesicht des Todes, des äußeren oder inneren Untergangs die Welt schön reden, die in der Sinnlosigkeit Bedeutung vermuten und in der Bedeutung nur den Zufall sehen. Nam Le entwirft Figuren, die von der menschlichen Blindheit erzählen in Geschichten, die Metaphern werden für das Leben schlechthin.

    Da zeigt sich, worauf es bei Literatur ankommt: nicht eine biografische oder historische Wirklichkeit gilt es zu beweisen. Es geht um die Wahrhaftigkeit der erzählten Wirklichkeit. Um die Glaubwürdigkeit der Erfindung. Und die wiederum ist ganz und gar unabhängig von Haut, Herkunft und Geschlecht ihres Autors.

    Da geht es beispielsweise um Juan, einen Kinderkiller in Lateinamerika, der von der Drogenmafia in den Slums bezahlt wird und seinem Boss auf Leben und Tod die Treue halten muss. Juan ist vierzehn. Nachdem sein Vater bei einem Überfall ums Leben gekommen ist, sorgt er für sich und seine Mutter. Er hat einen "Bürojob" angenommen, wie das Auftragsmorden zynisch unter den Soldatenkindern heißt, weil sie immer auf den nächsten Anruf warten. Als Juan den Auftrag bekommt, seinen besten Freund zu töten, der in den Augen der Mafia zum Verräter geworden ist, weil er in einem Sozialprojekt arbeitet, verweigert er sich. Le erzählt von Freundschaft, die ein altmodisch wirkender, hier aber überlebenswichtiger Treuebegriff zusammenschweißt, und von der anderen Seite dieser Treue; der rohen Gewalt.

    Eine sehr amerikanische Geschichte, deren Held in seinem Selbstekel an Updikes Rabbit-Figur erinnert, ist die Erzählung "Ein Treffen mit Elize". Ein alternder Maler, an Darmkrebs erkrankt, versucht, seine Tochter wiederzusehen, die er, seit sie ein kleines Kind war, nicht mehr zu Gesicht bekommen hat und die inzwischen eine berühmte Musikerin ist. Ein Studie über Schuld, Alter und Demütigung.

    Von Demütigungen handelt auch "Halflead Bay", die Geschichte eines pubertierenden Jungen in einem kleinen australischen Küstenort. Michel wird von dem Mädchen, in das er sich verliebt, verraten. Als er sich, um seinen Stolz zu wahren, auf einen Faustkampf mit seinem Widersacher einlässt, unterliegt er.

    Von Stolz handelt auch die vielleicht eindringlichste Erzählung in diesem Buch, die Titelerzählung "Im Boot". Sie schildert die Flucht eines jungen Mädchens vor den Vietcong. Auf dem Kutter, der Mai aus Nordvietnam herausbringen soll, freundet sie sich mit einem kleinen Jungen an. Der Junge wird die Reise nicht überstehen. Aber er wird zum Symbol für den Überlebenswillen der anderen Flüchtlinge.

    Auf der Flucht ist auch Sarah, die Hauptfigur in der Geschichte "Anruf aus Teheran". Diese Flucht der amerikanischen Anwältin scheint neben der lebensgefährlichen Schiffsreise nach Malaysia zunächst läppisch; Sarah flieht vor der Unfähigkeit, dem Leben Bedeutung abzugewinnen, in den Iran. Das chaotische Land scheint sie nur noch stärker in einen Strudel aus Selbstverlust und Erklärungsnot hineinzuziehen.

    Die Kunst Nam Les ist es, jeder seiner Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen. Egal, ob Vietnamesin oder Amerikanerin; Le macht die existentielle Dimension in jedem der Schicksale sichtbar und zeigt, dass die Existenzfrage immer abhängt von der Situation, in der man sich befindet.

    Manchmal scheint in Nam Les Erzählungen eine kalkulierte Spannungsdramaturgie durch, die Gegenwart und Vergangenheit geübt ineinanderschachtelt. Dann wieder versucht er seine eigenen Erzählmuster zu durchbrechen. Das gelingt nicht immer. In "Hiroshima" bedient sich der Autor eines assoziativen Erzählstils, dessen Verrätselungen vermutlich das Unfassbare der Atombombe fassen soll, aber umständlich und nebulös wirkt. Das mag daran liegen, dass Le für diese Geschichte kein Äquivalent in der eigenen Erfahrung gefunden hat; was nicht zu verwechseln ist mit der Biografie. Wo Le sich bei seinen anderen Figuren immer ein Erlebnis herausgreift und zum Zweck der Wahrhaftigkeit mit eigenen Erlebnissen abgleicht, bleibt er bei dem jungen Mädchen aus "Hiroshima" abstrakt.

    Dennoch ist der Erzählband "Im Boot" ein Buch von großer Bildstärke und eindringlichen Situationen, das eines auf keinen Fall gebraucht hätte: die einleitende Geschichte, in der Le sein Vorhaben thematisiert. Sie handelt von einem Studenten an Iowas Writer's Workshop, Vietnamesischer Abstammung, der sich weigert, über Vietnam zu schreiben und stattdessen über kolumbianische Killerkinder oder Waisenkinder in Hiroshima schreibt. Sein Vater, der vor den Foltern in vietnamesischen Umerziehungslagern geflohen war, kommt ihn nach langer Zeit besuchen. Und der Sohn bringt nun doch des Vaters Geschichte aufs Papier.

    Hier stellt der Autor seinem Buch einen Kommentar auf die westliche Lesererwartung voran, von einem Vietnamesen vietnamesische Texte zu hören. Der Stil parodiert den Stil kreativer Schreibkurse. Aber dem straffen und mit großer Klarheit erzählten Buch hat der Autor mit dieser lahmen Eingangsgeschichte keinen Gefallen getan. Dass er sich genötigt sah, sie an den Anfang zu stellen, sagt allerdings mehr über die Qualität gesellschaftlicher Wahrnehmung aus, als über die literarischen Qualitäten des Autors.

    Nam Le: Im Boot. Claasen Verlag 2008, 332 S., 22,- Euro.