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Ausweitung der sicheren Herkunftsländer
"In der Regel geht es um Menschen, die keine Flüchtlinge sind"

Nach Ansicht des SPD-Politikers Helge Lindh ist die vom Bundestag beschlossene Ausweitung der sicheren Herkunftsländer nur eine von mehreren nötigen Bausteinen einer geordneten und humanitären Migrationspolitik. Hinzukommen müssten Rückführungsabkommen und ein Einwanderungsgesetz, sagte er im Dlf.

Helge Lindh im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 18.01.2019
    Helge Lindh, Bundestagsabgeordneter der SPD-Fraktion, spricht im Bundestag.
    Helge Lindh, Bundestagsabgeordneter der SPD-Fraktion, spricht im Bundestag. (dpa / Jens Büttner)
    Dirk-Oliver Heckmann: Bereits im Jahr 2017 hatte die Große Koalition versucht, die Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien und Marokko auf die Liste sicherer Herkunftsstaaten zu setzen. Damals waren sie aber am Widerstand des Bundesrats gescheitert. Jetzt haben Union und SPD einen neuen Anlauf gemacht.
    Am Telefon ist jetzt Helge Lindh von der SPD, Mitglied im Innenausschuss des Deutschen Bundestages, Berichterstatter für das Thema. Schönen guten Tag, Herr Lindh!
    Helge Lindh: Guten Tag.
    Heckmann: Herr Lindh, die SPD ist ja eine Partei, die sich für den Schutz von Flüchtlingen einsetzt. Trotzdem haben Sie mit dafür abgestimmt. Ist Ihre Angst vor der AfD so groß, dass sich die SPD an der Aushöhlung des Asylrechts beteiligt?
    Lindh: Mitnichten! Denn man muss einfach nur in die Geschichte blicken. Das Rechtsinstitut - wenn man es jetzt technisch formuliert - der sicheren Herkunftsstaaten gibt es ja seit dem Asylkompromiss der 90er-Jahre - 1993. Das heißt, es ist gar nichts Neues. Da gab es noch keine AfD, die war überhaupt noch nicht existent. Das heißt, es gibt schon lange dieses rechtliche Konstrukt, und deshalb haben wir schon damals intensive Debatten geführt, uns dann auch mit schmerzlichen Auseinandersetzungen dafür entschieden, und setzen das jetzt nur konsequent, aber auch mit Maß, wie ich finde, um.
    Heckmann: Aber Sie wollen diese Liste ja immer weiter ausweiten und damit Flüchtlinge raushalten.
    Lindh: Das ist doppelt nicht zutreffend. Immer weiter ausweiten wollte heute die FDP mit einer Art Automatismus, dass jeder Staat, der unter fünf Prozent Anerkennungsquote hat, in ein Prüfverfahren kommt. Das wollen wir nicht. Wir wollen das genau prüfen im Einzelfall. Zum anderen ist es ja gerade so, dass es da in der Regel um Menschen geht, die nicht Flüchtlinge sind und die keine Chance auf Anerkennung haben. Es sollen keineswegs diejenigen, die schutzbedürftig sind, abgehalten werden. Das muss man sehr differenziert darstellen, denke ich.
    "Verfassungsrechtlich unterschiedliche Einschätzungen"
    Heckmann: Grüne und Linke sind trotzdem komplett dagegen, und auch Pro Asyl sagt, laut Bundesverfassungsgericht müssen Länder, die als sicher eingestuft werden, landesweit und für alle Personen und Bevölkerungsgruppen verfolgungsfrei sein. Und das sei erkennbar nicht der Fall, zum Beispiel nicht für Homosexuelle, nicht für Journalisten.
    Lindh: Es ist ja so, da treffen die Positionen fundamental aufeinander, und das kann man auch nicht ausbügeln und schönreden. Auch damals, als die Entscheidung fiel und auch vorm Gericht war 1996 über die sicheren Herkunftsstaaten, war das ja eine Mehrheitsentscheidung des Verfassungsgerichts, aber mit Sondervoten, damals von Böckenförde und auch Jutta Limbach. Das heißt, auch verfassungsrechtlich gibt es da unterschiedliche Einschätzungen und Bewertungen.
    Heckmann: Aber es gibt eine Entscheidung des Gerichts. Das kann man festhalten.
    Lindh: Unsere Position ist, dass wir die Einschätzung haben, dass es keine generelle, systematische, durchgängige Verfolgung gibt und dass damit es berechtigt ist, entsprechend zu entscheiden. Wenn aber die Grünen das grundsätzlich infrage stellen, auch grundsätzlich, was ja durchaus legitim ist, diese ganze Form der sicheren Herkunftsstaaten, dann müssen sie noch mal vors Verfassungsgericht gehen. Aber nach jetzigem Stand ist das aus unserer Sicht im Verfassungsgerichtsentscheid gemäß und auch rechtsfest.
    "Für eine geordnete, aber auch humanitäre Migrationspolitik"
    Heckmann: Grünen-Chefin Annalena Baerbock hat heute im Frühstücksfernsehen gesagt: "Viel besser wäre es, die geltenden Rechtsgrundlagen erst mal anzuwenden" – also mehr Richter auch einzustellen, mehr Personal beim BAMF und vor allem auch Rückführungsabkommen mit den entsprechenden Ländern zu schließen, und da hakt es ja in der Tat gewaltig.
    Lindh: Das ist nicht alternativ. Sie haben ja meine Rede mitbekommen. Da hatte ich auch explizit auf ein Gesamtpaket verwiesen, einschließlich Rückführungsabkommen, weil es natürlich absurd ist zu sagen, wir beschleunigen Verfahren, Menschen werden – das ist ein ganz schrecklicher Ausdruck – zurückgeführt, abgeschoben, auf Deutsch gesagt, aber tatsächlich gar keine Möglichkeit besteht zurückzuführen, weil die Länder diejenigen nicht aufnehmen oder keine Ersatzpapiere ausstellen.
    Heckmann: Macht die Große Koalition da eine absurde Politik?
    Lindh: Nein, überhaupt nicht. Es ist gerade das eine und das andere. Wir können ja nicht das eine mit dem anderen verrechnen. Wir müssen einerseits sicherstellen, dass diejenigen, die keine Chance haben, hier zu bleiben, wenn sie schon auf dem Arbeitsmarkt – das ist ja auch in dem Gesetzentwurf drin – integriert sind, auch bleiben können, die anderen aber nicht, und entsprechend zusätzlich Rückkehrabkommen schließen. Und wir brauchen zusätzlich ein Einwanderungsgesetz, weil diejenigen, die aus diesen Ländern kommen, in der Regel nur eine sichere Perspektive haben als Einwanderer auf den Arbeitsmarkt und nicht als Asylbewerber. Das heißt, diese ganze Entweder-Oder, Schwarz oder Weiß funktioniert überhaupt nicht, sondern es ist ein Mosaik von einzelnen Maßnahmen für eine geordnete, aber auch humanitäre Migrationspolitik.
    "Innenministerium muss höhere Anstrengungen unternehmen"
    Heckmann: Sind Sie denn zufrieden mit dem Stand der Rückführungsabkommen?
    Lindh: Nein. Ich bin der Meinung, die Zahl ist gestiegen derjenigen, die abgeschoben werden, und es ist, glaube ich, auch wichtig, es sich nicht zu einfach zu machen. Das ist ein sehr belastender Akt für die Betroffenen, selbstverständlich auch für Polizistinnen und Polizisten. Deshalb kann man das nicht nur mit einem Federstreich sagen, wir erhöhen massiv die Abschiebungen, sondern das muss sorgfältig und auch rechtsgemäß erfolgen. Die Zahlen sind gestiegen, aber es gibt noch nicht hinreichend Ergebnisse und die Abkommen müssen erst geschlossen werden mit den Maghreb-Staaten. Da muss auch das Bundesinnenministerium entsprechend noch höhere Anstrengungen unternehmen.
    Heckmann: Das heißt, Innenminister Seehofer macht seinen Job nicht?
    Lindh: Er macht ihn nicht umfassend genug und in einigen Bereichen zu viel und in anderen zu wenig.
    "Hängt von Baden-Württemberg und Hessens ab"
    Heckmann: Herr Lindh, 2017 haben Sie ja schon mal versucht, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Sie scheiterten damals im Bundesrat, und zwar an den Landesregierungen mit grüner Beteiligung. Glauben Sie, dass das diesmal anders sein wird?
    Lindh: Ich bin kein Prophet. Es gibt ja Hinweise, dass es auch diesmal wieder daran scheitern könnte. Das hängt letztlich auch maßgeblich vom Abstimmungsverhalten Baden-Württembergs und Hessens ab, und da gibt es Signale, dass die dagegen stimmen werden. Aber das ist nicht eindeutig. Herr Al-Wazir und Herr Kretschmann haben sich da zum Teil auch bedeckt gehalten. Deshalb muss man jetzt abwarten. Das ist jetzt der verfassungsmäßige Weg und wir werden die Entscheidung so hinnehmen müssen, wie sie fällt. Womöglich ist da noch eine Dynamik im Gange, aber davon konnten wir uns jetzt auch im Bundestag nicht abhängig machen.
    Heckmann: Das heißt, Sie sind bereit, von Bundesseite aus Kretschmann beispielsweise aus Baden-Württemberg noch das eine oder andere Angebot zu machen. Das hat ja schon mal funktioniert.
    Lindh: Aber ob das in diesem Fall der Fall sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Das hängt tatsächlich davon ab, was sich in den nächsten Wochen ergibt, ob bestimmte Forderungen erhoben werden. Kretschmann hatte ja zum Beispiel geäußert, dass er es abhängig machen wolle von einer Rechtsberatung, und da muss er jetzt entscheiden und muss die Regierung Baden-Württembergs entscheiden, entspricht diese, jetzt richtigerweise und zum Glück im Gesetz verankerte spezielle Rechtsberatung für vulnerable Gruppen, wie es so kompliziert heißt, ihren Erwartungen oder nicht. Danach wird sich das entscheiden.
    Inhaftierung ausreisepflichtiger Ausländer "keine gute Idee"
    Heckmann: Herr Lindh, Innenminister Seehofer will laut Zeitungsbericht ausreisepflichtige Ausländer in Zukunft in Gefängnissen unterbringen können. Das ist bisher gesetzlich ausgeschlossen, weil ausreisepflichtige Ausländer keine Straftäter sind. Machen Sie da mit?
    Lindh: Ich halte das für keine gute und sinnvolle Idee. Wir haben ja nicht ohne Grund, sondern sehr begründet dieses Trennungsgebot, dass da unterschieden wird von Ausreisegewahrsam und Abschiebungshaft einerseits gegenüber der normalen Haft. Und ich halte es für sinnvoll, das zu trennen, und auch nicht für die entscheidende Maßnahme. Sie haben ja das Argument vorhin selber genannt. Es gibt viel wichtigere und dringlichere Aufgaben. Und jetzt Personen, die abgeschoben werden sollen, zu inhaftieren, ist aus meiner Sicht nicht die wichtige und entscheidende Antwort auf die Fragestellung der Asylpolitik.
    Heckmann: Aber Sie schließen das auch nicht aus?
    Lindh: Ich selber – ich werde ja jetzt nicht den Stand der Verhandlungen und das, was er genau vorschlagen will, bewerten.
    Heckmann: Aber Ihre Position wäre interessant.
    Lindh: Meine Position ist ganz klar, meine persönliche Position. Meine Fraktion wird entsprechend dazu noch ihre Meinung bilden. Ich halte es für keine gute und keine richtige Idee und schlage dringend vor, nicht diesen Weg einzuschlagen.
    Heckmann: Heißt, Sie schließen es nicht aus, Sie persönlich?
    Lindh: Ich schließe es persönlich nicht aus, dass ein weiterer Vorstoß unternommen wird, aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich, dass sich die Koalition darauf einigen wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.