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Autismus wird zur Trenddiagnose

Nicht jeder soziale Rückzug, nicht jede Angstattacke und jedes stereotypes Verhalten ist ein Zeichen für Autismus. Autismus-Spektrum-Störungen - kurz ASS - werden von vielen Journalisten mit dem Nimbus des Außergewöhnlichen und Besondern in Verbindung gebracht.

Von Mirko Smiljanic | 26.02.2013
    Die Medien sind nicht immer an allem schuld, in diesem Fall tragen sie aber eine gehörige Portion Verantwortung. Autismus-Spektrum-Störungen – kurz ASS – werden von vielen Journalisten mit dem Nimbus des Außergewöhnlichen und Besondern in Verbindung gebracht. Parallel zur positiven Berichterstattung über Autismus, klettert die Zahl diagnostizierter Autismus-Störungen von Jahr zu Jahr steil nach oben. Zwischen ein bis drei Prozent aller Menschen leiden demnach an einer Störung des Autismus-Spektrums. Das erstaunt, denn nach dem gängigen Klassifikationsschema der Weltgesundheits-Organisation WHO,…

    "…darf eigentlich ja eine Krankheit nur dann diagnostiziert werden, wenn sie zu irgendeiner Form von Alltagseinschränkung führt, also dass entweder das Kind oder der Jugendliche da drunter leidet oder in dem Fall die Familie, oder sagen wir mal auch der schulische Erfolg durch die Krankheit auch nicht gewährleistet ist."

    Nicht jeder soziale Rückzug – sagt Prof. Christine Freitag, Direktorin der Klinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Frankfurt am Main – nicht jede Angstattacke, nicht jedes stereotype Verhalten hat Krankheitswert, so wie ja nicht jeder Anflug von Traurigkeit gleich eine Depression sein muss. Es gibt Grauzonen zwischen Diagnose und Eigenschaft, wobei einige Autismus-Störungen natürlich ganz eindeutig Krankheiten sind, etwa Formen, die mit schweren hirnorganischen Leiden einhergehen. Daneben gibt es aber auch Fälle – sagt Dr. Judith Sinzig, Chefärztin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des LVR-Klinikverbundes Bonn,…

    "…bei denen die Diagnose gestellt wurde, die aber auch sehr selbständig leben, einen Beruf nachgehen, eine Ausbildung haben und die in ihrem Alltag gut zurechtkommen, und die Diagnose aber trotzdem nicht weggeht, da würde man dann auch nicht von Eigenschaft sprechen, sondern weiter von Diagnose."

    Hinzu kommt, dass viele pathologische Eigenschaften von Autisten sozial durchaus erwünscht sind. Wer sich detailreich mit dem Thema Erderwärmung auskennt, wer die Primzahlen zwischen Null und einer Million auswendig kennt, kann auf Partys durchaus Pluspunkte sammeln. Aber muss man sich deshalb gleich eine Autismus-Diagnose beim Psychiater abholen? Natürlich nicht! Die Gründe für die stetig steigenden Diagnosezahlen sind für Christine Freitag vielschichtiger.

    "Tatsächlich ist es so, dass es für manche Eltern leichter ist, zu sagen, mein Kind hat Autismus als, es hat eine geistige Behinderung, und das andere ist eben, dass mit Asperger-Syndrom gelegentlich auch Hochbegabung assoziiert wird in vielen Publikationen und so weiter,…"

    …womit wir wieder bei den Journalisten wären, die gerne das Positive des Autismus hervorheben. Doch damit sind die steigenden Diagnosezahlen alleine nicht zu erklären. Ein weiterer Grund ist, dass immer mehr Ärzte immer mehr über Autismus wissen.

    "Auf der einen Seite werden vielerorts Personen, die durchaus die Diagnose haben, noch nicht erkannt, weil zu wenig Wissen über das Krankheitsbild da ist, aber da, wo sozusagen viel Fortbildung läuft und wo sich die Leute interessieren, hat man eher den Eindruck, dass alles so in Richtung Hochfunktionaler Autismus interpretiert wird."

    Das Problem der ständig steigenden Autismus-Diagnosen lässt sich nur lösen, in dem das Wissen über Autismus noch besser wird. Kinder und Jugendliche sollten schon beim ersten Verdacht in Spezialzentren überwiesen werden. Nur dort, so die Hoffnung, kann rasch eine klare Diagnose erstellt werden – sei es nun in die eine oder in die andere Richtung.