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Autonomie-Projekt
Jüdisches Leben in Polen nach 1945

Ein jüdisches autonomes Gebiet in Niederschlesien errichten - das war die Idee von Juden, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen lebten. Gabriel Berger beschreibt in seinem Buch "Umgeben von Hass und Mitgefühl", wie dieses Projekt auf die Beine gestellt wurde und warum es sehr schnell scheiterte.

Von Sabine Adler | 16.01.2017
    Eingang zur Synagoge Unter dem weißen Storch/Pod Bialym Bocianem im polnischen Breslau/Wroclaw
    Eingang zur Synagoge Unter dem weißen Storch/Pod Bialym Bocianem im polnischen Breslau/Wroclaw (imago/Seeliger)
    Der Buchtitel "Umgeben von Hass und Mitgefühl" beschreibt vermutlich die Empfindung des Autors Gabriel Berger, der nicht nur einer jüdischen polnischen Familie entstammt, dessen Vater auch Kommunist und somit mehrfach Anfeindungen ausgesetzt war. In seinem Sachbuch lässt der Sohn jedoch an keiner Stelle seinen Gefühlen freien Lauf, mit naturwissenschaftlicher Nüchternheit beschreibt der Autor, der von Haus aus Physiker ist, ein fast vergessenes Kapitel polnischer Geschichte: den Versuch, nach 1945 ein jüdisches autonomes Gebiet in Polen zu errichten. Ein Projekt, das trotz der immer noch antisemitischen Stimmung im Polen nach dem Holocaust mit großem Enthusiasmus in Angriff genommen wurde.
    "Es ging darum, dass die Juden in Polen verbleiben, aber eine weitgehende Autonomie bekommen und zwar im kulturellen Bereich vorwiegend. Es entstanden eigene Wirtschaftsstrukturen, von Juden organisiert. Sie hatten eigene Schulen, Verlage, Theater, Kultur- und medizinische Einrichtungen mit Jiddisch als Sprache. Also ein komplettes System der Selbstorganisation ihrer jüdischen Teilgesellschaft in Polen."
    Bundisten entwickelten die Idee bereits im 19. Jahrhundert
    Eine Idee, die zuerst die sogenannten Bundisten vertraten, die noch vor Wiedererstehen des polnischen Staates Ende des 19. Jahrhunderts von einem jüdischen autonomen Gebiet träumten und die nun, nach dem Zweiten Weltkrieg, unter Leitung von Jakob Egit endlich Wirklichkeit werden sollte.
    "Das war eine linke Arbeiterorganisation. Die plädierte dafür, dass in dem nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Polen eine kulturelle Autonomie für die Juden bestehen soll. Sie waren antizionistisch orientiert, die verfolgten nicht das Ziel, dass Juden aus Polen auswandern sollen, sondern sie sollten loyale polnische Bürger sein, aber ihre jiddische Sprache und Kultur pflegen. Diese Idee wurde auch von Egit vertreten, er war also der, der nach dem Krieg das jüdische Leben in Selbstverwaltung organisierte. Er selbst war kein Bundist, er schloss sich der kommunistischen Partei an nach dem Krieg. Aber seine Ideen waren deckungsgleich mit denen des Bundes."
    Seinen Platz bekam das jüdische autonome Gebiet in Niederschlesien, wo durch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg Polen aus den Ostgebieten angesiedelt wurden, die nun der Sowjetunion gehörten und eben auch zurückkehrende Juden.
    So aufgeschlossen die kommunistische polnische Staatsführung dem jüdischen autonomen Gebiet anfangs gegenüber stand, so schnell war es damit vorbei. Genau dann, als der sowjetische Diktator Josef Stalin eine Kehrtwende in Bezug auf den soeben gegründeten Staat Israel vollführte. Wohlwollen schlug in Ablehnung um, als klar wurde, dass sich Israel nicht als sozialistischer Vorposten in der arabischen Welt verstand.
    Pogrome und Übergriffe auf Juden in der Nachkriegszeit
    Wirklich sicher lebten Juden in Polen auch nach dem Ende des Holocaust nicht.
    Zahlreiche Übergriffe fanden statt, es kam an etlichen Orten zu Pogromen, so in Kielce, Warschau, Krakau, Tschenstochau, Radom oder Łódź. Gabriel Berger hat die Opfer zusammengerechnet.
    "Man beziffert die Gesamtzahl der ermordeten Juden nach dem Zweiten Weltkrieg etwa von 1945 bis 1949 auf 1.600 bis 2.000. Das klingt sehr dramatisch. Man muss es aber in Beziehung setzen zu der allgemeinen Situation, die in Polen herrschte: Es gab eine sehr große Anzahl von kriminellen Morden, bis zu 8.000 pro Jahr, was die allgemeine Bevölkerung betraf. Es gab eine allgemeine Rechtlosigkeit, die betraf natürlich die gesamte polnische Bevölkerung, aber insbesondere die Juden."
    Von dreieinhalb Millionen Juden in Polen haben den Nazi-Vernichtungszug nur 300.000 überlebt, auch mit Hilfe der polnischen Bevölkerung. 6.620 Polen bekamen von der israelischen Gedenkstätte Jad Vaschem den Ehrentitel "Gerechte der Völker". Doch viele andere Polen erwiesen sich als Helfershelfer der Nazis.
    "Es wurde in Polen 1945 der Mythos des polnischen Heldenvolkes aufgebaut und gepflegt. Das kollidiert aber mit den Fakten, weil es sich so nicht zugetragen hat. Es gab eine starke Kollaboration. Es gab eine freiwillige Kooperation, besonders der Landbevölkerung mit den Deutschen zum Beispiel beim Eintreiben von Juden. Und es gab eine Denunzianten-Pest in polnischen Großstädten. Das waren Personen, die sich Geld hinzuverdienten, indem sie Juden erpressten, die es geschafft haben, aus dem Ghetto herauszukommen und irgendwo unterzutauchen.
    Und es gab eigenhändige Morde von Bauern, in Ostpolen besonders, an Juden verübt, meistens vor dem Hintergrund des Eigentums, das man übernehmen wollte. Das ist eine Massenerscheinung gewesen, die der Heldenattitüde widerspricht."
    Abstand zur Sowjetunion brachte nächste Welle des Antisemitismus
    Bis 1947 verließen 170.000 jüdische Bürger Polen. Der Exodus ging weiter. Zehn Jahre später, während der sogenannten Tauwetterperiode, die der Stalin-Nachfolger Nikita Chruschtschow einläutete, rechnete man in Warschau und anderswo mit den Stalinisten ab. Juden, die hohe Positionen in Partei- und Staatsämtern hatten, wurden einmal mehr verfolgt. In jener Zeit beschloss auch Gabriel Bergers kommunistischer Vater mit seiner Familie zu fliehen.
    "56, das war nach dem 20. Parteitag in der Sowjetunion, kam es in Polen zunächst und dann in Ungarn zu einem politischen Umschwung. Die Führer dieser Länder versuchten sich in Demokratie. Sie versuchten sich dem Einfluss der Sowjetunion zu entziehen, was Freiräume schaffte für die Gesellschaft. Bedauerlicherweise waren das auch Freiräume für die Antisemiten in Polen. Es kam zu einer neuen Welle des Antisemitismus, die dadurch angeheizt wurde, dass man Juden pauschal vorwarf, den stalinistischen Terror betrieben zu haben. Die anderen, die Nicht-Juden, wurden damit entschuldet. Man hat damit den Sündenbock gefunden."
    Die letzte Ausreisewelle 1968 wurde durch die Studentenproteste in Gang gesetzt, jüdische Aktivisten wurden - als Aufrührer gebrandmarkt - exmatrikuliert. Von rund 300.000 Juden in Polen nach dem Krieg hatten sich nur rund 4.000 fürs Bleiben entschieden.
    Kollaboration während der NS-Zeit nicht wirksam aufgearbeitet
    Polnische Historiker forschen durchaus intensiv über die polnische Kollaboration mit den Nationalsozialisten und publizieren ihre Ergebnisse. Doch noch immer wird das Ausmaß der Zusammenarbeit mit den faschistischen Besatzern, das Experten durchaus bekannt ist, von politischen Kräften wie der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit geleugnet. Diskussionen über dieses Kapitel führen zu Zerwürfnissen, die eine Aufarbeitung bislang verhindern.
    "Wenn ich die polnische Literatur betrachte, die Kriegszeit und den Holocaust betreffend, muss ich den Hut ziehen und sagen, dass sie hervorragend ist, sehr tiefgründig, sehr gut aufgestellt. Die andere Frage ist natürlich, inwiefern diese Forschungsergebnisse massenwirksam werden."
    Gabriel Berger versucht, ein Bild der Enthusiasten für das autonome jüdische Gebiet im Polen der Nachkriegszeit zu zeichnen, das Porträt des Hauptakteurs und Anti-Zionisten Jakob Egit fällt allerdings recht sperrig aus. Der hohe Informationswert dieser dichten, nüchternen Faktensammlung macht das wett.
    Gabriel Berger: "Umgeben von Hass und Mitgefühl – Jüdische Autonomie in Polen nach der Schoah 1945-1949 und die Hintergründe ihres Scheiterns"
    Lichtig Verlag, 200 Seiten, 14, 90 Euro.