Freitag, 19. April 2024

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Autor Marko Paysan
"Auch Berlin hatte eine Ära der Tanzbands"

Mit "Berlin - Sounds of an Era, 1920 - 1950" legt der Historiker und Sammler Marko Paysan eine Mentalitäts- und Kulturgeschichte Berlins über drei Jahrzehnte vor. Verschollenes und Vergessenes präsentiert Paysan auf den drei CDs, die seinem Werk beiliegen. 70 Titel voller Finesse, Witz, Humor und Virtuosität, an die die deutsche Populärkultur lange nicht wieder anschließen konnte.

Marko Paysan im Corso-Gespräch mit Ulrich Biermann | 20.05.2016
    Cover des Bandes "Berlin - Sounds of an Era" von Marko Paysan
    Cover des Bandes "Berlin - Sounds of an Era" von Marko Paysan. (Edel Verlag)
    Ulrich Biermann: Berlin von 1920 bis 1950, das heißt drei Systeme, ein Weltkrieg, Marko Paysan, wie kann man das zusammenfassen als eine Ära?
    Marko Paysan: Das ist zunächst befremdlich, blickt man aber über die populäre Kultur und ihre Oberflächenphänomene, ich sage mal ganz massenhaft und doch tief angesetzt, die Groschenhefte der Krimis, die beginnen oft... Die erfolgreichen Serien gab es schon vor dem ersten Weltkrieg, aber besonders beliebte, in den 20ern, 30ern und 40ern gleichermaßen beliebte Serien - ich nenne jetzt als Beispiel Tom Shark - die beginnen in den 20er Jahren und enden tragischerweise - oder wie auch immer - in den frühen 50ern. Und wenn Sie sich sogar Mode anschauen, ein gewisses Rollenverständnis, eine gewisse Freizeitkonzeption. Ich sage mal junge Paare lernen sich kennen beim Tanz. Tanzvergnügen ist Allgegenwart im Alltag, ist auch durchaus erotisch konnotiert. Das sind alles Merkmale, die in dieser Form verbunden mit einer schon prosperierenden Musikszene, die jeden Monat neue Musiktitel auf den Markt wirft, so wie heute die Modezeitschriften gedruckt werden. Das sind immer gemeinsame Stilmerkmale, die dann, wenn man sich sehr dicht über die Quellenlage beugt, eine Art Klammer ergeben und man sieht: Aha, da beginnt nach dem ersten Weltkrieg trotz aller Tumulte und politischen Umbrüchen etwas Neues, erfasst sehr viele, breite Konsumentenschichten - auch schichtübergreifend - und entwickelt sich dann trotz und auch oft in Konflikt und Dialog mit der politischen Veränderung bis in die frühen 50er. Interessanterweise dann verschwindet es allmählich Mitte der 50er.
    Phänomen der Umstülpung und Modernisierung der Gesellschaft
    Biermann: Also kein historischer Bruch quasi, 33 bis 45, sondern eine konsekutive Entwicklung?
    Paysan: Ja und nein, vieles, zum Beispiel im Bereich der allgegenwärtigen, Jazz-ähnlichen Musik entwickelte sich schon in den Jahren 21, 22, 23. Noch nicht in der Form, die man heute als Jazz bezeichnen würde, freilich nicht, aber das Zurschaustellen von Lebensfreude, Eleganz und all diesen Dingen, die ja zunächst in dieser schwierigen Zeit wenigen zugänglich war - oder nur einem bestimmten Kreis, Halbwelt genannt von den Kritikern - das alles kam in dieser Phase auf und entwickelte sich nach dem Inflationsende Ende 23, im Jahr 24, 25 dann plötzlich mit einer unglaublichen Wucht. Anfang der 40er, dem Kriegsbeginn geschuldet, verschwand natürlich dieser positive Amerikanismus, schlug teilweise auch um in antiamerikanische Formate oder Inhalte. Axel Schildt hat maßgeblich geforscht schon vor 15, 20 Jahren, auch publiziert zu diesem Phänomen der Umstülpung und Modernisierung der Gesellschaft von 50 bis 60. Ich nenne ein Stichwort: Teenager. Dieser Begriff in dieser amerikanistischen oder amerikanischen Konnotation auch als Konsumformat oder Modell.
    Biermann: Da fängt was ganz Neues an?
    Paysan: Das ist etwas, ja, so nicht mit dieser Klammer, mehr ohne weiteres, die ich dargestellt habe, zu verbinden.
    Biermann: Kommen wir zurück auf Ihr Buch. "Berlin 1920 bis 1950 - Sounds of an Era". Format einer Schallplatte, 350 Seiten dick, Bildergeschichten, Essays, Analyse und öffnet man dieses Buch, da geht ein Kosmos auf, eine ganz neue Welt, die viele gar nicht so kennen werden. Warum ist das so vergessen, Berlin als Mode-, Showbusiness-, Unterhaltungsstadt in den 20er und auch noch 30er Jahren.
    Bildungsbürgerlicher Trennstrich zwischen U und E
    Paysan: Es gab in den Jahren ab Mitte 50er bis in die 60er, oft noch in die 70er den Versuch, durch eine mehr oder minder journalistischer, schneller Produktionen ausgelieferten Berichterstattung, Nostalgie zu produzieren, im Wortsinne "nostalgia" heißt ja auf Spanisch Erinnerung. Die Erinnerung an die ehemalige Hauptstadt sollte gestärkt werden, um den Standort Westberlin kulturell zu unterfüttern und zu fördern. Diese journalistischen Schnellschüsse, die waren eben nicht wirklich auf einer sicheren, weiteren Quellengrundlage aufgebaut. Warum? Als Journalist konnte man damals nicht einfach in irgendein Archiv gehen und sagen: Nun zeigt mir mal die Programmhefte - zum Beispiel von der Skala oder vom Wintergarten oder wo sind denn die Fotos von der und der Tanzkapelle? Ganz einfach deswegen: Der Sammelbegriff der staatlichen Archive hinkte weit hinter der Modernisierung der Gesellschaft und dieser Massenkultur hinterher, indem ein bildungsbürgerlicher Trennstrich gezogen wurde zwischen "U" - ich sage das mal in Anleihe an die Musikformate - zwischen "U" und "E", also zwischen Unterhaltung und Ernst oder ernster Musik und dann auch damit komplementär dem Umfeld, dem sozialhistorischen. Das hat bis in die jüngste Zeit große, große Lücken geschlagen, sodass man also bei Musikwissenschaftlern in den entsprechenden akademischen Schriften wunderbare Untersuchungen findet über die Entwicklung der...
    Biermann: Der modernen Klassik?
    Paysan: Ja, des Generalbass seit des Florentiner Reform, also das kann man weit führen.
    Biermann: Aber die Populärkultur wurde vernachlässigt?
    Paysan: Vollkommen und sogar abgelehnt, das muss ich auch noch hinzufügen. Sehr viele Filme - ich nenne kurz ein Beispiel: Einer der ersten Nachkriegsfilme von Marika Rökk hieß "Sensation in San Remo". Da geht es darum, dass die Tochter eines Musikwissenschaftlers die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Akademikerfamilie damit versucht auszugleichen, dass sie neben ihrem Job als strenge Lehrerin in einer Nachtbar singt. Und dann gibt es Entwicklungen die darin kulminieren, dass sie einen Tanzorchesterchef kennenlernt, der an einem Tanzorchesterwettbewerb teilnimmt in San Remo und sie mitnimmt als Sängerin in seiner Kapelle. Und der Professor gibt dann nach viel hin und her seinen Segen zu dieser ganz schrecklichen Musik, obwohl sie Allgegenwart war in den 30er und frühen 50er Jahren. Im Film auf Platte war das für ihn immer noch etwas Schreckliches.
    Opa Krawuttke machte die Schätze zugänglich
    Biermann: Was ja eine unglaubliche Ignoranz war, weil diese Musik war ja nicht nur präsent in den 50ern - das hört man auf den drei CDs, den 70 Stücken, die Sie da gesammelt haben. Das war ja viel früher schon präsent. Swingend, groovend witzig, leicht intelligent und von einer Qualität, die erstmal überrascht. Wo haben Sie diese Preziosen alle her?
    Paysan: Das war ein weiter Weg. Ich habe mit amerikanischem Jazz angefangen, das ist ganz natürlich. Und dann gab es wenig Literatur - eigentlich gab es nur ein Standartwerk von einem Berliner Autor, das später ein fast guter Freund wurde, das war der Herr Horst H. Lange, der veröffentlichte im Jahr 1966 ein Standartwerk "Jazz in Deutschland" - wäre heute in vielen Teilen neu zu schreiben, umzuschreiben, zu ändern und und und - und dann gab es von den Plattenfirmen für die Rentnerfraktionen dann auch Umschnitte mit derartiger Musik, die ich kaufte und dachte mir: Wenn es aber in Wahrheit 150 Platten gibt von der Band und ich kenne jetzt nur 10, dann wäre es ja interessant, die Restlichen zu kennen. Dann bin ich einfach zu Flohmärkten gegangen, habe Inserate gemacht in Zeitungen in der Hoffnung, dass Rentner sich melden und ich wusste damals durch ältere Berliner, dass ja nun Berlin das entscheidende Pflaster für all das war, zumal vor dem Krieg. Kurzerhand bin ich dann nach Berlin gefahren, dort auf die Flohmärkte und traf Gleichgesinnte. Das hat sich entwickelt zu einem Netzwerk. Und dieses Netzwerk hat dann letztlich die Not zur Tugend gemacht, das heißt die Not der staatlichen Archivlage wurde durch Menschen von der Straße, kann ich fast sagen, was ja auch plausibel ist bei einer populären Massenkultur, ausgeglichen. Also nicht der Professor war der Mann, der mir die Schätze dieser vergessenen, oder unterschätzen Kultur möchte ich sagen, zugänglich machte, sondern ich sage es mal lustig: Opa Krawuttke.
    Biermann: Jenseits von Krawuttke und Badenweiler Marsch, Berlin - Sounds of an Era - 1920 bis 1950. Klänge einer Ära, erschienen bei Edel-Records, herzlichen Dank. Zusammengetragen von Marko Paysan. Herr Paysan, alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.