Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Autor Siggelkow: Kinder verlernen Liebe durch Pornographie

Bernd Siggelkow hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist". Dieses Buch erzählt von Kindern und Jugendlichen, die Pornographie im Internet konsumieren und Sex praktizieren und von Eltern, die das nicht stört. Siggelkow forderte im Deutschlandfunk von Eltern, aber auch von Lehrern, das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken, um ihrer Verrohung entgegenzuwirken.

Bernd Siggelkow im Gespräch mit Christoph Heinemann | 26.09.2008
    Christoph Heinemann: Auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages steht heute das Krippenbetreuungsgesetz. Dieses soll die Grundlage bilden für die von Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen geplante Verdreifachung der Krippenplätze für Kleinkinder bis zum Jahr 2013. Wir werden im Laufe des Tages in unseren aktuellen Sendungen über die Debatte berichten.
    Wir wollen heute Früh den Blick richten auf Kinder, die dringend Hilfe benötigen, diese zu Hause in vielen Fällen aber nicht finden - ganz im Gegenteil. Bernd Siggelkow hat vor 13 Jahren im Berliner Stadtteil Hellersdorf das christliche Kinder- und Jugendwerk "Die Arche" gegründet. Er hat also viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun. Bernd Siggelkow hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist". Dieses Buch erzählt von Kindern und Jugendlichen, die Pornographie im Internet konsumieren und Sex praktizieren, von Eltern, die das nicht stört, von jungen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, deren körperliche Reife vorhanden ist, deren Seele aber hinterherstolpert, wie es im Buch formuliert ist. - Guten Morgen, Bernd Siggelkow.

    Bernd Siggelkow: Guten Morgen.

    Heinemann: Sie warnen vor einer Verrohung von Kindern. Können Sie Beispiele anführen?

    Siggelkow: Wir haben in den letzten Jahren immer wieder erleben müssen, dass Eltern mit ihren fünf-, sechs-, siebenjährigen Kindern gemeinschaftlich Pornofilme schauen, die Kinder, die dann in unsere Einrichtung gekommen sind, darüber berichtet haben. Dann haben wir die Eltern darauf angesprochen, sie gefragt, was sie da machen, was sie sich dabei gedacht haben. Und dann sagen sie "wieso, es ist doch nur Sex". Die Bilder, die sich dann in den Köpfen der Kinder abspielen, das ist ihnen eigentlich gar nicht so bewusst, weil sie sich mit dieser Thematik gar nicht so stark auseinandersetzen. Und was wir ganz oft erleben, dass so elfjährige Mädchen in meinem Büro sitzen, die schon einige Zeit in unsere Einrichtung kommen, die mich fragen, ob sie hässlich sind - eigentlich sind es hübsche Mädchen -, und ich frage sie dann "sag mal, warum stellst du mir so eine Frage, du bist doch ein bildhübsches Mädchen", und dann sagen sie zu mir, "ich habe noch niemals Sex gehabt". Sie definieren sich eigentlich dann nur darüber, dass sie irgendwann Sex erleben, weil sie schon viel zu früh erwachsen werden.

    Heinemann: Welche Eltern tun das, was Sie eben beschrieben haben?

    Siggelkow: Das sind häufig Eltern, die vielleicht selber noch sehr jung sind, die vielleicht auch - und das haben wir sehr stark gemerkt - aus der sozialen Unterschicht kommen, die wenig Perspektiven haben, die manchmal alleinerziehend sind. Glücklicherweise erziehen ja die meisten Eltern in Deutschland ihre Kinder vernünftig, aber es gibt eben eine Gruppe von Menschen, die wenig darüber nachdenken, welche Inhalte sie ihren Kindern antun.

    Heinemann: Eine Gruppe, ist das eine Schicht?

    Siggelkow: Na ja, es ist schon eine Schicht von Menschen, die perspektivlos sind, Menschen, die keine Ziele haben, die für den Tag leben, die sich nicht viele Gedanken über sich selber machen und noch weniger Gedanken über ihre Kinder. Das haben wir leider in vielen Ballungszentren in Deutschland.

    Heinemann: Und das hat mit Armut zu tun?

    Siggelkow: Ja. Das hat natürlich auch mit Armut zu tun. Die Armut suggeriert natürlich auch die Perspektivlosigkeit. Wenn heute jemand in Hartz IV ist, dann hat er wenig Chancen, da rauszukommen. Gerade Alleinerziehende, die vielleicht in manchen Städten nicht mal einen Kindergartenplatzanspruch haben, die mit immer weniger Geldern auskommen müssen, weil die Lebenshaltungskosten immer mehr in die Höhe schnellen, die haben häufig große Probleme und natürlich auch große persönliche Probleme.

    Heinemann: Herr Siggelkow, welche Folgen hat der Konsum pornographischer Filme oder Sequenzen für Kinder und Jugendliche? Was haben Sie beobachtet?

    Siggelkow: Da wo Kinder ungesteuert und ungefiltert das Internet aufsuchen können und vielleicht ihre Bildung und auch ihre Bilder sich aus dem Internet ziehen können, da ist die Pornographie natürlich ganz stark verbreitet, denn ich kann ja heute auf einschlägigen Seiten mit einem Klick, der fragt "bin ich über 18", mit "ja" anklicken und dann kann ich mir Tausende von Pornoseiten anschauen. Da kann ich Filme sehen, die jede auch perverse Form der Pornographie darstellen. Diese Bilder verhaften sich in den Köpfen der Kinder natürlich und sie bleiben ja ungefiltert. Ich sage mal so: Dass Jugendliche oder Kinder sich mit Sex-Bildern auseinandersetzen und vielleicht auch mal Pornofilme sehen, das passiert ja tatsächlich. Aber die sind nicht ungeschützt, sondern da sind dann häufig auch Eltern, die das auffangen können. Aber da, wo eben keine Eltern sind, die das auffangen können, da passiert diese Verrohung und Kinder klären sich sozusagen selber auf.

    Heinemann: Und sie leben das dann nach?

    Siggelkow: Ja, sie leben es nach. Wir haben oft gesehen, dass Pärchen nicht mehr Händchen halten, nicht mehr küssen, wenn man sie fragt. Als wir Jugendliche waren, haben wir wahrscheinlich geknutscht wie die Wilden. Wenn man dann die Frage stellt, warum küsst ihr denn nicht mehr, dann sagen sie, na ja, im Pornofilm wird auch nicht geküsst und das funktioniert auch.

    Heinemann: Und was geschieht, wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist?

    Siggelkow: Das ist ja das große Problem. Viele dieser Kinder haben dann schon wechselnde Sexualpartner und vielleicht mit 14, 15 Jahren schon 30, 40 verschiedene Partner gehabt und jedes Mal bei der Sexualität gab es keine Liebe, keine Geborgenheit, keine Zärtlichkeit. Wir haben Jungs, aber auch Mädchen erlebt, die gesagt haben, Kuscheln wollen wir nicht, wir wollen den Akt und damit war's das. Viel mehr wollen wir nicht. Und sie sind dann natürlich sehr beziehungsunfähig. Bei jedem Konflikt geht die Freundschaft auseinander, auch wenn sie sich letztendlich den Partner fürs Leben wünschen, mit dem sie auch Kinder haben wollen. Aber je mehr verschiedene Sexualpartner sie in der Vergangenheit hatten, wo eben keine Liebe und keine Geborgenheit in dieser Sexualität waren, werden sie immer beziehungsunfähiger.

    Heinemann: Herr Siggelkow, wie haben Sie die jungen Leute zum Sprechen gebracht?

    Siggelkow: Wir haben die jungen Leute nicht zum Sprechen gebracht, indem wir ein Jahr lang recherchiert haben. Das sind viele Dinge, die auch in diesem Buch beschrieben werden, die über Jahre gewachsen sind, wo viele Kontakte bestehen. Wir sind ja eine der Einrichtungen, die auch sehr stark auf Beziehung arbeitet. Das heißt, junge Leute kommen dann schon selber mit ihren Fragen, aber auch mit ihren Unzulänglichkeiten, auch mit ihren Problemen. Ich hatte einen ganz konkreten Fall in dieser Woche. Da kam ein Mädchen, das ich zwei Jahre nicht gesehen habe. Eigentlich sieht sie aus wie 12 oder 13, aber sie ist gerade 16 geworden. Sie lächelte mich an und sagte na, kennst du mich noch, ich war jetzt zwei Jahre nicht da. Da sagte ich ja und da holte sie aus dem Kinderwagen ein kleines Kind. Das war gerade neun Monate alt und sie sagte guck mal, das ist mein Sohn. Ihre 15-jährige Schwester saß daneben und dann haben wir uns unterhalten. Da sagte ich, wie ist das denn mit der Verhütung bei euch. Also ganz locker, weil wir eben sehr offen auch darüber sprechen. Da sagte die 15-jährige Schwester, ich schlafe auch schon seit zwei Jahren mit Jungs, aber ich verhüte nicht, aber da ist auch noch nichts passiert. Wir versuchen natürlich aufzuklären. Wir versuchen, ihnen auf ihrer Ebene zu begegnen als die Ansprechpartner, die eigentlich in der Familie sein müssten, um mit Kindern solche Themen aufzuarbeiten.

    Heinemann: Müssten. - Gab es eine Verwahrlosung Jugendlicher und in deren Folge eine sexuelle Verrohung nicht immer schon? Ist das ein neues Phänomen?

    Siggelkow: Na ja, es gab natürlich schon immer diese ganzen Extreme. Wenn man vor 15 oder 20 Jahren von Onanieren gesprochen hat, oder wenn man in den 60er Jahren von Nacktbildern gesprochen hat, dann war das die große sexuelle Revolution. Natürlich gab es das schon immer und das wird es auch immer geben. Nur der Unterschied zu heute, denke ich, ist sehr stark diese Beziehungslosigkeit. Es findet keine Liebe statt. Sexualität ist eine schöne Sache. Für mich ist es die beste Erfindung, die Gott jemals erfunden hat. Aber letztendlich, wenn es ohne Beziehung stattfindet, ohne Liebe stattfindet, dann führt es dazu, dass der Mensch noch isolierter und noch vereinsamter ist. Die Frage ist letztendlich: Wo bleibt er dann nicht nur mit seinen Gefühlen, sondern mit dem, was ja jeder Mensch braucht? Jeder Mensch sehnt sich ja nach Zärtlichkeit, aber er findet sie nicht und wird dadurch einfach abgestumpft und kalt. Die Frage ist, ob wir uns das als Gesellschaft leisten können, mal unabhängig von der Sexualität.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Bernd Siggelkow, Autor des Buches "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist". - Herr Siggelkow, Sie sind Vater von sechs Kindern. Wie immunisiert man Kinder gegen die pornographische Gewalt im Internet?

    Siggelkow: Ich denke, dass es ganz wichtig ist, dass wir als Eltern lernen, mit unseren Kindern über alle Themen zu sprechen, dass wir offen sind, dass wir uns nicht verschließen ihnen gegenüber und dass wir nicht ihnen das Gefühl geben, die Aufklärung in der Schule reicht letztendlich. Unsere Kinder sind vielen Reizen ausgesetzt. Wir brauchen nur ins Kino zu gehen, am Nachmittag um 15 Uhr bei einer Kinderpremiere oder einem Kinderfilm. Da ist auch schon ganz deutlich die AIDS-Werbung oder die Kondom-Werbung. Manchmal sind da eben auch diese ganz drastischen Sex-Szenen. Man redet dann mit seinen Kindern darüber. Wir haben ein ganz lockeres Verhältnis mit unseren Kindern und wir immunisieren sie nicht, weil sie leben ja in dieser Zeit und sie wachsen mit all diesen Inhalten auf. Aber wir geben ihnen natürlich auch lebenswichtige Tipps. Wir verbieten ihnen natürlich nicht alles, aber wir wollen sie schon darauf hinweisen, dass wir nicht alles konsumieren müssen, weil das letztendlich nicht gut ist. Unsere Kinder nehmen uns das natürlich ab, weil wir ihnen das auch vorleben.

    Heinemann: Das heißt, Ihre Kinder haben auch uneingeschränkten Zugang zum Internet?

    Siggelkow: Ab einem bestimmten Alter haben meine Kinder auch uneingeschränkten Eingang zum Internet. Ich sage ihnen natürlich, was ich mag und was ich nicht mag ab einem bestimmten Alter. Meine ältesten Söhne sind 18 und 23. Die können natürlich letztendlich machen was sie wollen. Sie sprechen aber über alle Inhalte mit uns und sie werden nicht auf einschlägige perverse Pornoseiten gehen, weil das ist etwas, was sie selber nicht als wichtig für ihr Leben finden, sondern Liebe spielt bei ihnen eine große Rolle. Der Sex ist auch nicht ausgeklammert, natürlich nicht. Aber sie versuchen schon, vernünftig mit diesem Thema umzugehen.

    Heinemann: Wo und wie sollten Kinder lernen, was Liebe ist?

    Siggelkow: Eigentlich sollten Kinder lernen, was Liebe ist, in ihrem Elternhaus. Wenn nämlich Kinder erfahren, was Geborgenheit, Liebe ist, wenn sie auf dem Schoß ihrer Eltern sitzen können, wenn man sich zärtlich um sie kümmert schon in frühester Kindheit, dann werden sie Liebe erfahren. Aber da, wo das nicht eine Rolle spielt, dort ist die Frage, wo nehmen sich die Kinder diesen Ersatz her. Wo finden Kinder diesen Ersatz, wenn die Eltern vielleicht ihren Kindern nicht mehr die Aufmerksamkeit geben können oder geben wollen, die sie letztendlich brauchen? Kinder wollen ja Liebe. Sie sehnen sich danach. Auch Erwachsene, ganz klar. Die Frage ist nur, wer kann das letztendlich auffangen und wer will das auffangen. Wenn die Eltern nicht mehr in der Lage sind, ihren Kindern Liebe zu geben, dann muss es Menschen geben, die unvoreingenommen Kindern die Liebe geben, die sie letztendlich brauchen.

    Heinemann: In der Schule oder wo?

    Siggelkow: Die Frage ist letztendlich, wo verbringen die Kinder ihre Freizeit. Wie gehen auch Lehrer mit den Kindern um. Es gibt ja sehr viele liebevolle Lehrer, die von ihren Schülern geliebt werden. Die können die Kinder natürlich nicht auf ihren Schoß setzen oder sie können sie vielleicht nicht in den Arm nehmen. Aber sie können ihnen auf jeden Fall das Gefühl geben, dass sie wertvoll sind und dass sie einzigartig sind. Da haben alle Menschen, die mit Kindern arbeiten, auch eine große Verantwortung.

    Heinemann: Wie sollte die Gesellschaft, die Politik mit dieser so beschriebenen sexuellen Tragödie umgehen?

    Siggelkow: Nun ist glücklicherweise das, was wir in unserem Buch beschreiben, nicht ein Phänomen, was jetzt alle Jugendliche und alle Kinder betrifft. Das ist vielleicht eine Gruppe von ich sage mal vorsichtig 10, 15 Prozent der Jugendlichen. Aber was dringend von Seiten der Politik passieren muss, das Internet muss auf jeden Fall geschützt werden. Es kann nicht sein, dass Kinder uneingeschränkt, auch wenn die Eltern vielleicht einen Kinderschutz ins Internet setzen, oder an den Computer, wird das letztendlich nicht davor bewahren, dass Kinder sich bestimmte Inhalte aus bestimmten Seiten zugänglich machen. Da muss ein Schutz vor, auch auf den Handys. Ich denke, es kann nicht sein, dass Kinder auf den Schulhöfen sich diese Porno-Videoclips von einem Handy zum anderen über Bluetooth schicken - das ist schon in der Grundschule so - und dann schauen sich die Kinder das an. Da muss mehr Schutz her. Das ist, denke ich, was die Politik machen kann.

    Heinemann: Was sagen Sie Kindern, die zu Ihnen in die Arche kommen und die Sie für gefährdet halten?

    Siggelkow: Ich denke, wir machen keinen Unterschied zwischen den Kindern, die in die Arche kommen, die gefährdet sind oder die nicht gefährdet sind. Wir versuchen, den Kindern allen zu zeigen, dass sie einzigartig und wertvoll sind und dass wir sie alle so behandeln, als wenn sie das einzige Kind in unserer Einrichtung wären, denn ich denke, Kinder haben das Anrecht auf Liebe und Freundschaft. Wir sind in erster Linie Freunde der Kinder und weil wir Freunde der Kinder sind, können wir auch über alle Themen ihres Lebens mit ihnen reden.

    Heinemann: Und so stärkt man deren Immunsystem?

    Siggelkow: Man stärkt ihnen das Selbstwertgefühl. Ich denke, das ist ein großes Problem, dass viele Kinder, die zu uns kommen, überhaupt kein Selbstwertgefühl haben, dass sie sich nur noch über das definieren was sie haben, über ihr Handy oder über ihren Fernseher, manche eben auch über ihre Sexualität. Und wenn ihnen Menschen begegnen, die sie ernst nehmen mit allen Dingen ihres Lebens, mit den Höhen und ihren Tiefen, dann werden wir sie nicht nur immunisieren, sondern dann werden wir sie stark machen für die Zukunft.

    Heinemann: In den "Informationen am Morgen" sprachen wir im Deutschlandfunk mit Bernd Siggelkow, Autor des Buches "Deutschlands sexuelle Tragödie. Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist". Das Buch endet mit dem Satz: "Unsere Kinder brauchen uns mehr denn je". - Herr Siggelkow, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören nach Berlin.