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Autoren als Antwortgeber

Wer veröffentlicht, ist eine öffentliche Person, und wer in der Öffentlichkeit steht, muss die Rolle des Antwortgebers annehmen. "Entgrenzungen" lautet der Titel einer Gesprächsreihe, in der 14 Autoren weitgehend denselben Fragen unterzogen werden.

Von Dorothea Dieckmann | 06.09.2007
    Warum schreiben Sie? Was ist für Sie Liebe? Wo und wie arbeiten Sie? Wie definieren Sie Literatur? Wie würden Sie den deutschen Kulturbetrieb, die junge deutsche Literatur beschreiben? Und sich selbst - mit welchen Adjektiven?

    "Es gibt keine dummen Fragen, es gibt nur dumme Antworten", lautet eine Binsenweisheit. Im Vergleich der Antworten, der Haltungen und Attitüden liegt das Spannende dieses knapp 500 Seiten starken Bandes: Wer produziert sich bereitwillig als Sprachrohr? Wer verweigert die eine oder andere Antwort? Wer zeigt einen vorauseilenden Bekenntnisdrang, wer beweist spielerische Souveränität? Wer äußert sich pointiert, wer redundant, wer selbstgefällig, wer bescheiden? Vor allem aber: Wessen Selbstauskunft wird überhaupt als repräsentativ erachtet? Die Literaturwissenschaftlerin Olga Olivia Kasaty - über deren Person uns der Band leider keine Auskunft gibt - hat sich vorgenommen, die "Schriftsteller der neuen und jungen deutschsprachigen Generation der 90er Jahre" zu befragen; es sollten "junge, zwischen 1960 und 1975 geborene Autoren" sein.

    Man kann streiten, ob "jung" ein Oberbegriff für Menschen im Alter zwischen 32 und 47 ist; in erster Linie scheint es der Herausgeberin ohnehin um ein exaktes Mittel aus Lyrik und Prosa, Ost und West zu gehen. Aus Ostdeutschland stammen Thomas Brussig, Durs Grünbein, Ingo Schulze und Lutz Seiler, aus Westdeutschland Judith Hermann, Felicitas Hoppe und Michael Lentz. Natürlich gibt es Überschneidungen; der Westdeutsche Daniel Kehlmann lebt in Wien, Julia Franck, in Ostberlin geboren, kam schon als Kind in den Westen. Neben den Österreichern Kathrin Röggla und Raoul Schrott hat Kasaty den Schweizer Peter Stamm ausgewählt, und zuguterletzt vertreten Terézia Mora und Feridun Zaimoglu, Deutsch schreibende Autoren aus einem anderen Sprachraum. Das unausgesprochene, dieser fast zwanghaften Ausgewogenheit übergeordnete Kriterium ist jedoch offenbar der Erfolg: Befragt werden ausschließlich Autoren, die sich vollständig auf dem Markt durchgesetzt haben.

    Kann man unter dieser Voraussetzung wirklich eine Vielfalt entdecken? Man kann. Nehmen wir die Frage nach der Lektüre und literarischen Einflüssen. "Ich brauche weder Kafka noch Joyce", sagt Thomas Brussig, wiewohl er zugesteht, dass es "keine schlechten Autoren" sind. Von ihm stammt die folgende Interpretation des niederschmetternden, mit dem Nobelpreis ausgezeichneten KZ-Romans von Imre Kertész: "Kertész schreibt liebevoll über seine Zeit im KZ. Er hat nun mal keine andere Vergangenheit - also verklärt er sie. Das ist menschlich." Dieser erschreckende Ausrutscher ist gottlob einmalig.

    Neben Durs Grünbeins und Raoul Schrotts gelehrten Exkursen zur literarischen Tradition kommt es zu eher putzigen Äußerungen wie etwa von Felicitas Hoppe: "Ich finde auch einen Autor wie Schiller faszinierend", oder Julia Franck: "Als ich mit dreizehn nach Berlin kam, hegte ich eine seltsame Abneigung gegen die deutsche Literatur". Grünbein bezeichnet sich als einen der besten Goethe-Leser, und Zaimoglu kommentiert den Vergleich eines seiner Bücher mit Goethes "Werther": "Ich kannte das Buch nicht."

    Doch es ist weniger der Unterschied zwischen elitärem Bildungswillen und praller Bodenständigkeit, der das Gesamtbild prägt, als jener zwischen einem sperrigen, kritischen Profil und einer glatten, medienkompatiblen Selbstdarstellung. Das abgeschottete linksstrukturalistische Theorievokabular der Jelinek-Verehrerin Kathrin Röggla mag abschrecken - weit mehr aber verstören Leerformeln wie "mit Überzeugung arbeiten", "sein Werk vertreten", "erstklassige Literatur produzieren" und Sentenzen wie "Kunst beflügelt mich, wenn ich ein sehr gutes Kunstwerk sehe, höre, lese" oder "Man hat das Gefühl, dass der kreative Impuls einem viel über sich selbst sagt", mit denen Hoppe, Mora und Kehlmann aufwarten. Mit solchen Stereotypen bedienen arrivierte Autoren einen abgegriffenen Profijargon, wie man ihn von arrivierten Politikern kennt. Hinzu kommt bisweilen eine muntere Bestätigung der herrschenden literarischen Konsuminteressen. "Ein System, das fördert, was keiner liest, und übersieht, was mal gelesen wird, das ist überflüssig": Mit diesem Ruf nach kommerziellen Auslesekriterien beklagt sich etwa der Bestsellerautor Brussig über die deutsche Literaturförderung.

    Vor allem die Lyriker - Grünbein, der diesjährige Bachmannpreisträger Lutz Seiler und Raoul Schrott - haben die Distanz zum Marktgeschehen bewahrt. "Texte werden konsumiert wie Speisen oder Modeartikel", urteilt Grünbein und schlussfolgert hart: "Ich glaube, dass der tägliche Kulturbetrieb in Deutschland eine große Abtreibungsmaschinerie ist." Schrott unterscheidet "zwei Arten von Literatur" - jene, "wo es darum geht, wer wen umbringt und wer mit wem ins Bett geht [...]; es sind quasi Einwegbücher", und jene, die sich gegen den Konsum sperrt: Letztere sei "die nachhaltigste Form menschlichen Gedächtnisses".

    Wenn er beklagt, dass man "die jungen Courths-Mahlers à la Judith Hermann zum Maßstab der Literatur erhebt", dann trifft Schrott eine im selben Band vertretene Kollegin, die mit ihrem Mega-Erfolg zur heiligen Kuh erklärt und deren Literatur, ebenso wie jene des bedächtig und nüchtern auftretenden Ingo Schulze, zur Schullektüre kanonisiert wurde. Umso überraschter lernt man in Hermann eine ehrliche, nachdenkliche Gesprächspartnerin kennen. Ihre tastenden Ausführungen erinnern an ein Selbstgespräch, das sich immer wieder zweifelnd ins Wort fällt: "Ist das abgegriffen?" Eine ähnlich entwaffnende Geradlinigkeit beweist Peter Stamm, aus dessen buchhalterisch trockenen Antworten Sätze hervorstechen wie diese: "Ich kann heute noch verblüffend schlechte Texte schreiben. Das erstaunt mich immer wieder."

    Bleibt die Frage: Wie reagieren die Marktführer der jüngeren Literatur auf private Fragen nach ihrer Definition von Liebe und nach ihrem persönlichen Selbstverständnis? Für Julia Franck gehört zur Liebe "Zugehörigkeit und Toleranz, Spiel und Zärtlichkeit, zwischen Mann und Frau unweigerlich Erotik, Vertrauen." Solchen Banalitäten hält Michael Lentz entgegen, dass "das Gebrauchsvokabular der Liebe" beschränkt sei, und Zaimoglu beteuert impulsiv: "Ich weiß wirklich nicht, was Liebe ist [...9, ich kann [es] nicht sagen". Und während Thomas Brussig, Julia Franck, Felicitas Hoppe, Daniel Kehlmann, Terézia Mora und Peter Stamm auf die Frage nach ihrem Selbstbild bereitwillig Adjektive aufzählen, fühlt sich Kathrin Röggla an einen Psychotest erinnert, und Judith Hermann erklärt schlicht ihre Unfähigkeit, sich selbst auf den Nenner zu bringen. Seltsamerweise wird einigen Männern diese Frage erspart; stattdessen heißt es etwa ehrfurchtsvoll: "Mit welchen Stichworten wollen Sie das Gespräch beenden, Herr Grünbein?"

    Durs Grünbein ist es, der den Kritikern ein "statistisches Verhältnis zur Kunstwelt" vorwirft. Gehört in diese Kategorie nicht auch eine standardisierte, auf die "Top 14" beschränkte Gesprächsreihe wie diese? Man mag dies bejahen und hinzufügen, dass der Selbstkommentar eines Schriftstellers wenig mit dem Werk zu tun hat - eine Gefahr, auf die Seiler, Röggla und Lentz ausdrücklich hinweisen. Und trotzdem: Der Umgang mit dem gesprochenen kann nicht vom Umgang mit dem literarischen Wort getrennt werden. Es gibt eben keine dummen Fragen. Oder? "Können Sie bitte kurz die wesentlichen Merkmale der Gesellschaft im Deutschland der 90er Jahre umreißen?" Als Ingeborg Bachmann in einer fast identischen Formulierung nach ihrer Haltung zur Gesellschaft gefragt wurde, antwortete sie: "Ich habe keine Ansichten, denn in der Ansicht, in der Meinung [...] regiert die Phrase. [...] Die Schriftsteller werden wirklich erst abdanken müssen, wenn sie nur noch die Phrasen im Mund haben, die die anderen auch haben." Wer die hierzulande etablierten Autoren daraufhin prüfen will, dem sei dieses reiche Material empfohlen.


    Olga Olivia Kasaty: Entgrenzungen
    Vierzehn Autorengespräche.
    Edition Text + Kritik, 491 Seiten