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"Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze"

Lange vor den heftigen Kontroversen der 68er Revolte hat sich die politische Philosophin Hannah Arendt mit dem Reizthema Autorität und Politik befasst. Dabei gelangte sie zu der Erkenntnis, dass Autorität eine politische Tugend und kein pädagogisches Phänomen sei.

Von Monika Boll | 16.12.2012
    In dem nun folgenden Essay hat sich Monika Boll auf jene Spur im Denken von Hannah Arendt begeben. Die Autorin gab zusammen mit Raphael Groß das im Verlag S. Fischer erschienene Buch "Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945" heraus.

    "Autorität und Freiheit sind keineswegs Gegensätze"
    Auf den Spuren von Hannah Arendt


    "Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf - wenn man davon überhaupt noch sprechen kann - ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin."

    Obwohl Hannah Arendt bei den größten Philosophen ihrer Zeit, bei Martin Heidegger und Karl Jaspers, studiert hatte, legte sie später Wert auf die Feststellung, dass sie sich nicht als Philosophin verstehe. In einem Fernsehinterview mit Günter Gaus aus dem Jahr 1964 erklärt sie, warum sie es für einen Fehler hält, Politik und Philosophie zu vermischen:

    "Sehen Sie, der Unterschied liegt eigentlich in der Sache selbst. Der Ausdruck 'Politische Philosophie', den ich vermeide, dieser Ausdruck ist außerordentlich vorbelastet durch die Tradition. Wenn ich über diese Dinge spreche, akademisch oder nicht akademisch, so erwähne ich immer, dass zwischen Philosophie und Politik eine Spannung lebt. Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist, eine Spannung, die es in der Naturphilosophie nicht gibt. Der Philosoph steht der Natur gegenüber wie alle anderen Menschen auch. Wenn er darüber denkt, spricht er im Namen der ganzen Menschheit. Aber er steht nicht neutral der Politik gegenüber."

    Der letzte Satz lässt sich durchaus als Selbstbeschreibung verstehen. Denn Neutralität gehörte nicht zu Hannah Arendts Tugenden. Sie strebte sie auch gar nicht an.

    Hannah Arendt wäre als politische Theoretikerin nicht so berühmt geworden, wäre sie nicht so häufig angeeckt mit ihren Thesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stritt sie mit zionistischen Organisationen, weil sie deren Vorstellungen von einem zukünftigen Staat Israel für einen nationalistischen Irrweg hielt. Anfang der sechziger Jahre erregte ihr Bericht über den Prozess gegen Adolf Eichmann Aufsehen und brachte ihr sehr viel Ärger ein, weil einer der größten Kriegsverbrecher sie zu der These von der "Banalität des Bösen" verleitete. Und auch mit ihrer Einlassung zur Rassentrennung in Amerika hat sie sich mehr Feinde als Freunde gemacht. Ihre Biografin Elisabeth Young-Bruehl äußerte deshalb einmal lakonisch:

    "Hannah Arendt hatte zeitlebens ein Public Relation-Problem. Sie wurde zur brennenden Lunte für Kontroversen."

    Und die Reihe lässt sich noch fortführen: Arendt hatte auch ein Public Relation Problem mit den Vertretern der 68er Revolte. Sie galt dort lange als konservative Denkerin. So sehr Arendt das politische Engagement der Studenten auch begrüßte, so skeptisch sah sie deren antiautoritäre Haltung, die sie für einen politischen Irrtum hielt.

    Genauso wenig hätte sie sich jedoch mit dem "Lob der Disziplin" oder einer "Pflicht zu führen" anfreunden können, wie sie heute wieder von dem Pädagogen Bernhard Bueb und seinen Anhängern propagiert werden. Schon deshalb nicht, weil Autorität für Arendt überhaupt kein pädagogisches Phänomen darstellte, sondern eine politische Tugend, eine für die Demokratie dringend notwendige und leider fast vergessene Tugend. Gegen das Vergessen schrieb sie 1957 einen Essay mit dem Titel "Was ist Autorität"?.

    Die kleine Abhandlung gehört zu einer Sammlung von Beiträgen, die Arendt für die Europäische Verlagsanstalt unter dem Titel "Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart" zusammengestellt hat. Ihrem Doktorvater und Freund Karl Jaspers, dessen Neigung zum geistig Erbaulichen ihr allzu vertraut war, berichtete sie in einem ihrer Briefe auffallend zögerlich davon.

    "Ich muss noch etwas beichten. Ich stellte im Sommer eine Reihe von theoretischen Essays der letzten Jahre zusammen. Es sind alles Übergangsarbeiten, und ich fürchte, sie werden Ihnen nicht gefallen, weil sie ganz negativ-destruktiv sind und die positive Seite kaum zu sehen ist."

    Tatsächlich erwecken die Essays den Eindruck, als habe sich jemand zum Gefecht auf verlorenen Posten begeben: Was ist Autorität? "Was war Autorität'", hätte es richtiger heißen müssen, meint Arendt und fährt fort:

    "Der moderne Autoritätsverlust, die Tatsache nämlich, dass wir in der modernen Welt kaum noch Gelegenheit haben zu erfahren, was Autorität eigentlich ist, hat natürlicherweise zu einer gewissen Begriffsverwirrung geführt. Da Autorität immer mit dem Anspruch des Gehorsams auftritt, wird sie gemeinhin für eine Form der Macht, für einen Zwang besonderer Art gehalten. Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwangs aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt."

    Gegen die moderne Begriffsverwirrung, die Autorität stets mit Unterdrückung, Zwang und Gewalt assoziiert, empfiehlt Arendt eine Rückbesinnung auf den Ursprung des Begriffs im römischen Staatsdenken. "Cum potestas in populo, auctoritas in senatu sit", "wie die Macht beim Volk, so soll die Autorität beim Senat liegen", heißt es in Ciceros Schrift "Über die Gesetze".

    Dies zeigt, dass die Zuständigkeiten von Volksversammlung und Senat in Rom getrennt waren. Dem römischen Senat stand keine Macht zur Verfügung, die ihm die Durchsetzung seines Willens mit Gewalt erlaubt hätte, ein Beschluss der Volksversammlung wäre auch ohne seine formelle Zustimmung gültig gewesen und auch der Konsul war rechtlich nicht verpflichtet, dem Rat des Senats zu folgen.

    Macht und Autorität sind hier formal getrennt, stehen aber in einer wichtigen Beziehung zueinander. Was die Exekutivgewalt jedoch band, war die Pflicht zur Beratung. In schwierigen politischen Entscheidungen stellte der Senat ein Beratungsgremium für die Volksversammlung dar. Sein Ratschlag hatte Autorität, war aber nicht bindend.

    Der Historiker Theodor Mommsen beschäftigte sich in seinen berühmten Studien zum Römischen Staatsrecht mit der für moderne Leser schwer verständlichen Institution einer Autorität ohne Amtsgewalt, wie sie der Ältestenrat repräsentierte. Mommsen schrieb:

    "Die ebenso eminente und effektive wie unbestimmte und formell unfundierte Machtstellung des Senats wird in der späteren Republik regelmäßig mit dem in entsprechender Weise verschwommenen und aller strengen Definition sich entziehendem Wort Auctoritas bezeichnet. In diesem Sinne ist Auctoritas mehr als ein Ratschlag und weniger als ein Befehl, ein Ratschlag, dessen Befolgung man sich nicht füglich entziehen kann."

    "Mehr als ein Ratschlag und weniger als ein Befehl" - wozu aber diente solch ein Ratschlag, welche Funktion übernahm er? Die Autorität übernahm die Aufgabe der Gewaltenteilung. Im Beratungszwang lag die Absicht eines Korrektivs, das angesichts fälliger Entscheidungen vor Irrtum, Willkür und Größenwahn der Macht schützen sollte.

    Dem antiken Verständnis nach gab es im Bereich politischer Entscheidungen keinen objektiven Maßstab, da die Folgen des Handelns niemals kalkulierbar sind. Politik galt daher auch als Kunst ,nicht als Wissenschaft wie nach modernem Verständnis, demnach Zukunft, etwa aufgrund ökonomischer Gesetzmäßigkeiten, prognostizierbar und planbar erscheint. Wie irrig die moderne Annahme ist, Marktgesetze fungierten wie Naturgesetze und müssten daher bloß erkannt und befolgt werden, wird in der aktuellen Wirtschaftskrise leider überdeutlich. Vielleicht verhilft ja die Erinnerung an den ursprünglichen Sinn von Autorität zu einer neuen Bescheidenheit?

    Bislang jedoch dominiert eine andere Sicht auf Autorität, die Wahrnehmung. Unabhängig davon, ob der Verlust derselben befürchtet oder herbeigewünscht wird, herrscht Einigkeit bei Rechten, Linken und Liberalen, dass Autorität eine Disziplinar- und Ordnungsmaßnahme sei und sich mit Freiheit und dem Recht auf Selbstverwirklichung kaum vereinbaren lasse.

    "Der modernen Diskussion des Autoritätsbegriffs wie der Vorstellung von der sogenannten 'autoritären Persönlichkeit' liegt nahezu immer eine Gleichsetzung von Zwang und Gewalt mit Autorität zugrunde."

    So unterstreicht Arendt noch einmal den geläufigen Irrtum und liefert mit dem Stichwort "autoritäre Persönlichkeit" zugleich einen Hinweis auf das Ziel ihrer Polemik. In den Nachkriegsdebatten um Gründe und Ursprünge des Nationalsozialismus kursierte die Rede von der "autoritären Persönlichkeit" geradezu als Schlagwort. Die These von einem Zusammenhang zwischen autoritärem Verhalten und den Entstehungsbedingungen des Hitlerregimes stammt von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, den beiden Köpfen der Frankfurter Schule.

    Dass das persönliche Verhältnis zwischen Hannah Arendt und den Mitgliedern der Frankfurter Schule nicht das Beste war, ist ein offenes Geheimnis. Hier wird jedoch einmal deutlich, wo neben privater Antipathie inhaltliche Streitpunkte lagen.

    Die Studien der Frankfurter Schule über Autorität beeinflussten später auch die Studentenbewegung. Max Horkheimer stellte einmal unter dem Titel "Lektionen aus dem Faschismus" die Eigenschaften des autoritären Charakters wie folgt zusammen:

    "Er zeigt eine mechanische Auslieferung an konventionelle Werte; blinde Unterwerfung unter die Autorität, die mit blindem Hass auf alle Opponenten und Außenseiter einhergeht; Ablehnung introvertierten Verhaltens; streng stereotypisches Denken; ein Hang zum Aberglauben; halb moralistische, halb zynische Abwertung der menschlichen Natur."

    Damit war die Gleichsetzung eines politischen Phänomens, dessen Eckpfeiler Gewalt, Zwang und Ideologie heißen und das so einzigartig schien, dass sich zu seiner Charakterisierung ein neuer Begriff, Totalitarismus, durchzusetzen begann, mit einem aus der politischen Tradition längst bekanntem anderen Phänomen nahe gelegt, das von je her einen Gegenpol zu Gewalt und Zwang markierte.

    Die Folge davon war, dass mit der Analyse und Kritik sogenannter "autoritär-totalitärer" Strukturen eine Bindestrichkonstruktion in den Common Sense einging, die letztlich weder dem, was einst Autorität bedeutete, noch moderner totalitärer Herrschaft gerecht werden konnte.

    Mit der Erinnerung, dass Macht zu ihrer dauerhaften Etablierung der Autorität, nicht aber der Gewalt bedarf, hat sich Arendt später auch in die Debatten der Studentenbewegung eingemischt. Zunächst einmal begrüßte sie die Revolte als wiedererwachte Lust am politischen Handeln und unterstützte deren Anliegen, soweit sie die Forderung nach studentischem Mitspracherecht an den Universitäten sowie den Protest gegen den Einmarsch amerikanischer Truppen in Vietnam betrafen. In einem Brief an Daniel Cohn-Bendit, der im Frühjahr 1968 aus Frankreich ausgewiesen wurde und mit dessen Eltern sie während ihrer Emigrationszeit in Paris gut befreundet war, schrieb sie:

    "Ich möchte Dir nur zwei Dinge sagen: Erstens, dass ich ganz sicher bin, dass Deine Eltern, und vor allen Dingen Dein Vater, sehr zufrieden mit Dir sein würden, wenn Sie noch lebten. Und zweitens, dass, falls Du in Ungelegenheiten gerätst und vielleicht Geld brauchst, sowohl Chanan Klenbort wie wir immer bereit sein werden, nach Möglichkeit zu helfen."

    Arendt teilte die Kritik an den verknöcherten Strukturen der Universitäten, die sie selber für überlebt hielt, aber sie gab auch zu verstehen, dass es sich ihrer Meinung nach bei der Universität um die einzige weltliche Institution handle, die noch auf Autorität basiert. Sie meinte damit etwa die Freiwilligkeit, mit der sich Studenten unter die Autorität eines Lehrers ihrer Wahl begaben.

    Für die antiautoritäre Bewegung hingegen stellt sich die Krise der Autorität als Gewinn auf ganzer Linie dar. Autorität kommt in deren Perspektive auch weniger als Frage nach den grundsätzlichen Bedingungen politischer Institutionen in den Blick, denn als eine gefährliche psychosoziale Disposition infolge patriarchaler Gesellschaftsstrukturen.

    Hier beriefen sie sich wiederum auf die Studien der Frankfurter Schule, die im Wesen der autoritären Persönlichkeit eine sadomasochistische Regression vermuteten, basierend auf mangelnder Ich-Stärke bei gleichzeitig überentwickeltem Über-Ich, dem unbewussten Stellvertreter der Autorität. In der spiegelbildlichen Verkehrung dieses Psychogramms schien eine Utopie auf, in der die Aufhebung von Autorität als Voraussetzung galt für die Versöhnung eines mündigen Individuums innerhalb einer demokratischen Gesellschaft. Das daraus folgende Ideal eines emanzipierten Subjekts sollte wahrhaft autonom über sich selber verfügen können. Damit war jede Form der Rückbindung an Vergangenheit als fremdbestimmt abgeschnitten.

    Ein nahe liegender Grund dafür lässt sich aus den damaligen Zeitumständen erklären. Er betraf die Frontstellung der ersten Nachkriegsgeneration gegen die Väter, deren Autoritätskapital durch ihre aktive Teilnahme am NS-Regime gründlich diskreditiert war. Ein anderer bestand jedoch im utopischen Ideal des Neuen Menschen, der im Vertrauen auf die eigene Potenz und ohne die Melancholie des Verlustes das Band der Generationen auflöste. Im Gegenteil, Emanzipation von Autorität erschien als unabdingbare Voraussetzung für die Selbstverwirklichung eines Individuums, das von Geschichte und Tradition befreit Zukunft aus dem voraussetzungslosen Jetzt entwerfen können sollte.

    Im Unterschied dazu wurzelt Autorität in der Vergangenheit wie sie im römischen Politikverständnis der Senat, der Ältestenrat repräsentiert. Auctoritas heißt wörtlich "vermehren" und "fördern", insofern als der Rat der Alten die Gegenwart um die Erfahrung gelebten Lebens bereichert und die prinzipielle Unwägbarkeit aller Entscheidungen und ihrer Folgen mildern hilft.

    Wo Zukunft unverfügbar bleibt, versteht sich Auctoritas als eine Lehrmeisterin des Lebens. Demnach müsste eine sich ihrer Entscheidungsfreiheit auch als Zumutung und Verantwortung bewusste Macht das Schwinden von Autorität eigentlich als Verlust empfinden.

    Hannah Arendts Pessimismus, für den sie sich in ihrem Brief an Jaspers fast entschuldigte, bezog sich auf die Befürchtung, dass mit der modernen Umwertung von Autorität ihre ursprüngliche Bedeutung für die Politik verloren gehen würde. Eine kleine Hoffnung blieb jedoch: Wo der Faden der Tradition gerissen ist, da kommt der "Perlentaucher" ins Spiel. So nannte Arendt, in Anlehnung an Shakespeare, Walter Benjamin und seinen Versuch, vergangenes Wissen zu bergen. Sie schreibt:

    "Sofern Vergangenheit als Tradition überliefert ist, hat sie Autorität; sofern Autorität sich geschichtlich darstellt, wird sie zur Tradition. Walter Benjamin wusste, dass Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluss, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu suchen. In diesem Umgang wurde er ein Meister, als er entdeckte, dass an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle ihrer Autorität die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln und ihr den falschen Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit zu rauben."

    Arendt war nicht nur in der Verlustrechnung mit Benjamin einig, sondern auch in der Absicht, versunkenes Gedankengut, das von keiner Tradition mehr gehegt wird, stückweise in die Gegenwart zu retten. Vielleicht besteht überhaupt das größte Verdienst ihres Werkes in dieser Perlentaucherei, mit deren Funden sie das politische Denken der Gegenwart immer wieder konfrontierte und der Fragwürdigkeit aussetzte. Eine letzte Verbindung zu den versprengten Trümmern der Vergangenheit fand Arendt, auch darin Walter Benjamin verwandt, in der Sprache, die das Andenken traditionslos bewahrt. So war sie der Meinung:

    "Die griechische Polis wird solange am Grunde unserer politischen Existenz, auf dem Meeresgrunde also, weiter da sein, als wir das Wort 'Politik' im Munde führen."

    Aus ihrer Bewunderung für die griechische Polis hat sie dann auch ihren größten Einwand gegen die Moderne im allgemeinen und den Marxismus im besonderen abgeleitet: Dass Arbeit nämlich nicht frei mache, unter keinen Umständen, nicht unter Zwang und Ausbeutung und nicht unter revolutionierten Produktionsverhältnissen. Die Befreiung der Arbeit kann immer nur die Befreiung von Arbeit bedeuten, das war ein gegen die moderne Gesellschaft und ihr protestantisches Arbeitsethos getragener aristokratischer Vorbehalt, demzufolge Freiheit dort anfängt, wo die Reproduktion der natürlichen Bedingungen des Lebens endet.

    Arendts rigorose Trennung des privaten vom öffentlichen, bzw. des gesellschaftlichen vom politischen Bereich gründete in der anti-rousseauistischen Überzeugung, dass Gleichheit nicht zum Wesen der menschlichen Natur gehöre, sondern allein im artifiziellen Raum des Politischen hergestellt werden könne. Die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz sollte überdies als ein Regulativ wirken, das zu einer Würdigung und Anerkennung der natürlichen Ungleichheit der Menschen in der Gesellschaft beitragen sollte.

    Politische Emanzipation statt gesellschaftlicher Assimilation, das war die Lehre, die sie auch aus der Geschichte der Judenverfolgung zog. Das Verlangen nach Gleichberechtigung der Juden hätte demnach vor allem ein Bemühen um politische Partizipation sein müssen. Dass die seit dem 19. Jahrhundert sogenannte Judenfrage von Feinden wie Freunden stattdessen meist als ein gesellschaftliches Problem behandelt worden war, hielt Arendt für verhängnisvoll in Bezug auf das Entstehen des rassistischen Antisemitismus. Wäre in der Weimarer Zeit das republikanische Selbstbewusstsein besser verankert gewesen, das jedem Staatsbürger gleiche Rechte vor dem Staat garantiert, wäre die Entrechtung der Juden zu Beginn der NS-Herrschaft vielleicht nicht so klaglos hingenommen worden.
    Der von den Griechen erlernten Unterscheidung von Politik und Gesellschaft maß Arendt so viel Autorität zu, dass sie eine Übertragung auf moderne Verhältnisse empfahl. Sie machte aus ihrer politischen Geringschätzung der sozialen Frage keinen Hehl.

    Anlässlich einer Entscheidung zur Aufhebung der Rassentrennung durch den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika verfasste sie 1957 für die Zeitschrift "Commentary" einen Artikel namens "Überlegungen zu Little Rock", in dem sie ihre Leser darüber belehrte, dass unterdrückte Minderheiten nie die besten Sachkenner seien, wenn es um die Priorität politischer Rechte gehe und es deshalb oft vorzögen, für soziale Chancengleichheit zu kämpfen.

    In dem Gerichtsbeschluss ging es um die gesetzliche Einführung der Integration an öffentlichen Schulen im südlichen Bundesstaat Arkansas. An der Highschool von Little Rock kam es daraufhin zu Ausschreitungen, bei denen schwarze Schüler von Weißen daran gehindert wurden, die Schule zu betreten. Am Ende entsandte die Regierung Bundestruppen zum Schutz der Schwarzen. Alle Nachrichtenkanäle berichteten, die öffentliche Meinung sprach sich mehrheitlich für den Einsatz aus.

    Nicht aber Hannah Arendt: Sie verteidigte das Recht auf Diskriminierung in Schul- und Erziehungsfragen, weil sie soziale Fragen wie die Wahl der Schule für eine reine Privatangelegenheit der Individuen hielt. Außerdem hielt sie es für unverantwortlich von den Eltern, den Rassenkonflikt auf dem Rücken ihrer Kinder auszutragen. Geradezu genüsslich provokant formulierte sie deshalb gegen die, wie sie schrieb: "routinemäßige Wiederholung liberaler Klischees":

    "Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist. Es geht nicht darum, wie die Diskriminierung abgeschafft werden kann, sondern um die Frage, wie man sie auf den Bereich der Gesellschaft, wo sie legitim ist, beschränken kann; wie man verhindern kann, dass sie auf die politische und persönliche Sphäre übergreift, wo sie sich verheerend auswirkt."

    Der Skandal um den Artikel fing bereits in der Redaktion an, die den Druck zunächst lange hinauszögerte. Zum Schluss befand sich Arendt in einer öffentlichen Debatte, in der man ihr vorwarf, sie votiere für Rassentrennung. Erst als sich der berühmte afroamerikanische Schriftsteller Ralph Ellison einmischte und aus Sicht der Betroffenen auf eine harte Auseinandersetzung im Kampf gegen Rassismus bestand, lenkte Arendt ein.

    Ein Jahr später aber erhielt sie für eben diesen Artikel eine Auszeichnung der "Longview Foundation", einer Stiftung für Völkerverständigung. Arendt war nicht nur überrascht, sondern fühlte sich zugleich in ihrer Einschätzung Amerikas bestätigt, das sie für das gesellschaftlich konformistischste, aber politisch freieste Land hielt. Sie berichtet davon Gertrud Jaspers in einem Brief:

    "Aber was Ihren Mann vielleicht freuen wird: Ich erzählte von dem großen Streit, den ich im vorigen Jahr hatte wegen meiner ketzerischen Ansichten über die Negerfrage und equality. Ich sagte, glaube ich, dass keiner meiner amerikanischen Freunde mir zugestimmt hätte, dass aber sehr viele wirklich böse gewesen sind. Nun bekomme ich auf einmal einen Preis. Weil er so unpopulär gewesen ist, vermutlich! Das ist doch sehr typisch für das Land. Es erinnert mich an eine Geschichte aus dem Krieg; die höheren Schulen in New York hatten allen Schülern der obersten Klasse die Aufgabe gestellt, sich auszudenken, wie Hitler bestraft werden solle. Darauf schrieb ein Negermädchen: Man solle ihm eine schwarze Haut anziehen und ihn zwingen, in den Vereinigten Staaten zu leben. Das Mädchen bekam den ersten Preis und ein Stipendium für vier Jahre College!"

    Als Hommage an das Land, in das Arendt gemeinsam mit ihrem Mann Heinrich Blücher vor den Nazis floh und dessen Bürger sie schließlich geworden war, schrieb sie 1963 ihr Buch "Über die Revolution". Dass Amerika sich gegen den Totalitarismus resistent gezeigt habe, verdanke es nicht zuletzt dem Erbe seiner Revolution. Denn hier, so Arendt, sei es geglückt, dem Wunder des revolutionären Neuanfangs ein dauerhaftes Fundament in der Autorität der Gründung zu verleihen.

    Auch die Auseinandersetzungen um die Rassentrennung hatten schließlich gezeigt, dass Amerika ein politisch vitales Gemeinwesen geblieben war. Arendt fand bei der breiten Bevölkerung eine größere Lust an politischer Einmischung als in Europa:

    "In Amerika, wo es ja immer diese spontanen Vereinigungen gibt, die dann auch wieder auseinandergehen, diese associations, von denen schon Tocqueville gesprochen hat, da können Sie das sehr deutlich sehen. Irgendein öffentliches Interesse betrifft jetzt eine bestimmte Gruppe von Menschen, eine Nachbarschaft oder auch nur ein Haus oder eine Stadt oder eine anders gelagerte Gruppe. Dann werden diese Leute zusammenkommen, und sie sind sehr gut imstande, in diesen Dingen öffentlich zu handeln. Denn diese Dinge überschauen sie."

    Die größere Lust am Handeln mag historisch auch damit zusammen hängen, dass die amerikanische Revolution, anders als die französische, von der traumatischen Erfahrung des Terrors verschont blieb. Zu diesem Schluss kamen Hannah Arendt und der Staatsrechtler und SPD-Politiker Carlo Schmid in einem Rundfunkgespräch 1966. In der Sendung ging es um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Revolutionen. In Frankreich wie in Amerika war die Gründung der Nation das Ziel, aber nur die amerikanischen Revolutionäre wussten die Rolle zu schätzen, die die Verfassung dabei spielen würde.

    Hannah Arendt/Carlo Schmid:
    "Aber sie wollten außerdem, und das kommt direkt aus Amerika, sie wollten auf einmal eine Konstitution."

    "Ja."

    "Und das ist völlig neu, und zwar als geschriebenes Dokument."

    "Als philosophisches Dokument, Sie wollten…"

    "Als geschrieben, geschrieben."

    "Ja, aber philosophisch."

    "Gut, also, wie immer. Jedenfalls etwas Festes, was Stabilität sichert, was wie ein Wall ist, in dessen Grenzen man frei ist. Warum ist es in Europa nicht gelungen? Es gibt es nicht in Europa. Was wir in Europa als Verfassung bezeichnen, hat mit dem, was wir in Amerika Verfassung nennen, und was durchaus revolutionären Ursprungs ist, sehr wenig zu tun."

    Aus dem Respekt vor der Verfassung als unantastbarer Gründungsurkunde spricht der alte römische Geist der Autorität. Die Gründung Roms galt den Römern als unangreifbar, nicht weil es sich dabei um ein absolut neues, mit keiner Vergangenheit verbundenes Gemeinwesen handelte, sondern weil in der Gründung Roms das alte Troja wieder auferstehe. So schrieb es Vergil in der "Aeneis", dem Nationalepos der Römer. Das Staatswesens Roms bezog seine Autorität aus seiner Gründung als ein zweites Troja.

    Ganz ebenso stand den amerikanischen Gründervätern das Leitbild und die Autorität Roms vor Augen. Schon Marx bemerkte, dass die Revolutionen in römischen Kostümen die Weltbühne betraten, aber anders als Marx, der darin einen anachronistischen Ausdruck historischer Folklore sah, hängt für Arendt der Erfolg einer Revolution maßgeblich davon ab, ob es ihr gelingt, den Akt der Neugründung zugleich mit so viel Autorität der Vergangenheit auszustatten, dass sich in der Folge dauerhafte politische Institutionen legitimieren lassen. In diesem Sinn schreibt sie:

    "Aufgabe der Autorität ist immer gewesen, die Freiheit zu begrenzen und gerade dadurch zu sichern."

    Diese Verbindung von Revolutionärem und Konservativem zeichnet die amerikanische vor der französischen Revolution aus. Während Frankreich in jedem Revolutionsjahr eine neue Verfassung installierte und später mit jeder Verfassung eine neue Republik gründete, blieb die Verfassung der Vereinigten Staaten von 1787 bis heute in Kraft und stellt damit eine der ältesten republikanischen Verfassungen überhaupt dar.

    Die Anknüpfung an eine Vergangenheit, die auch in der Gegenwart Autorität genießt, hat dabei die Aufgabe, den Abgrund der Freiheit, der sich anderenfalls in der Gefahr einer haltlosen, permanenten Revolution auftun würde, zu begrenzen. Ausdruck einer geglückten Neugründung ist die daraus entspringende Verfassung eines Staates, die fortan als unantastbar gilt, weil sie mit der Autorität des Gründungsaktes ausgestattet ist. Dies erklärt den hohen Stellenwert, den die Verfassung bis heute im amerikanischen Selbstverständnis besitzt. Die Verfassung repräsentiert beides, den revolutionären Akt der Neugründung und seine dauerhafte Institutionalisierung.

    Hannah Arendt: "Ich habe mich bemüht das Wort Revolution zu rehabilitieren. Ich bin der Meinung, dass die wirklich standhaltenden politischen Gebilde und das standhaltende politische Vokabular des 20. Jahrhundert revolutionären Ursprungs sind."

    Im Deutschen gehört zu jenem standhaltenden Vokabular der Begriff des "Verfassungspatriotismus". Er verweist auf die Bindungen der Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949. Auch dies ein Neuanfang, der mit einem revolutionären Umbruch zu vergleichen ist. An die Stelle des Nationalismus, der nach der NS-Herrschaft als tragendes Fundament des Staates restlos diskreditiert war, trat nun eine Verfassung.

    Entgegen ihrer Kritiker, denen ein Schriftstück zu abstrakt schien, um politisch belastbar zu sein, genießt das Grundgesetz heute eine hohe politische Autorität. Das zeigen die regelmäßig einsetzenden öffentlichen Bedenken, die mit einem Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes einhergehen.

    So schlecht, wie Arendt befürchtete, scheint es um die alte politische Tugend der Autorität gar nicht bestellt zu sein.