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Avantgarde im Küchenschrank

Zwischen 1910 und 1920 setzte sich in Europa die abstrakte Malerei durch. Ihr folgte Ende der 20er Jahre auch eine entsprechende Entwicklung im Geschirr-Design. Hatten bisher Landschaftsbilder oder Blumen die Kaffeekannen, Teller und Tassen geziert, so kamen jetzt geometrische Muster in Mode. Nachdem die Nationalsozialisten dann an die Macht kamen, verschwanden diese Dekore wieder aus der Produktion. Das Badische Landesmuseum in Karlsruhe dokumentiert jetzt diesen Einbruch der Avantgarde in die deutschen Küchenschränke.

Von Martina Wehlte-Höschele | 29.01.2006
    Spritzdekor-Keramik um 1930 als Gegenstand einer Ausstellung? Das klingt nach Spezialveranstaltung für einen kleinen Kreis. Gerade der Eindruck aber ist der ambitionierten Schau des Badischen Landesmuseums Karlsruhe nicht zu wünschen; und wer regelmäßig bei ebay reinschaut, weiß, dass eben das auch nicht zu befürchten ist. Denn der Markt für Spritzdekor-Keramik entwickelt sich lebhaft und die Zahl der Sammler ist groß. Worum handelt es sich also? Allgemein gesprochen um Gebrauchsgegenstände aus Steingut, seltener aus Porzellan, die ihr Farbdekor durch eine spezielle Verfahrensweise, nämlich die Spritztechnik, erhielten. Sie wurde in den 1880er/90er Jahren in Amerika entwickelt und gelangte recht bald nach Europa, so dass um 1910 schon einhundert deutsche Keramikfirmen sie anwandten. Dabei wurde die Farbe, zunächst nur für den Hintergrund, mit einem sogenannten "Aerograph" aufgebracht, einer Druckluftspritze, von der mehrere Modelle in der Ausstellung zu sehen sind.

    Diese neue schwierige Technik ermöglichte es, durch eine sichere Dosierung der Druckluft und eine entsprechende Kalibrierung der Düsenöffnung beim Aufsprühen der Farbe den Niederschlag zu variieren, also die Dichte der Farbschicht und damit ihre optische Wirkung. Mittels Gips- oder Metallschablonen wurden Muster aufgesprüht: eine Almhütte, der röhrende Hirsch oder konventionelle Blümchenmuster, wie sie auf einigen Tortenplatten aus der Zeit zwischen 1912 und 1935 eingangs des Karlsruher Museums beim Markt zu sehen sind. Sie markieren das damals Übliche und damit den Gegenpol zu dem, worum es in der Ausstellung geht, die Revolution der Muster, mit der die avantgardistische Formensprache Einzug hielt in die Gebrauchsproduktion. Hier konnte die Intention des Bauhauses, die Kunst in den Alltag zu tragen, tatsächlich realisiert werden; beim Rundgang sind allenthalben der russische Suprematismus, de Stijl, konstruktivistische Strenge oder Kandinskys Formendynamik erkennbar.

    Über fünfhundert Exponate wurden aus aller Welt und überwiegend von Privatsammlern ausgeliehen. Die Kuratorin Joanna Figiel hat damit ein gänzlich unbekanntes Kunstterrain betreten und der Katalog ist nicht nur ein Stück Pionierarbeit sondern auch ein Standardwerk geworden. Die Fülle des Materials ist vier Themenblöcken zugeordnet, denen die Ausstellungsarchitektur in gelungener Weise korrespondiert. Auf einem überdimensionalen de Stijl-Tisch mit ineinander verkanteten Flächen wird zunächst das Formenspektrum von Mitte der zwanziger bis Mitte der dreißiger Jahre präsentiert. "Gestaltet die Form aus dem Wesen der Aufgabe mit den Mitteln der Zeit", ist das Motto, unter dem hier eckige Eierbecher und Teller oder eine leuchtend gelbe Butterdose mit fliehenden Kanten aus der Annaberger Steingutfabrik vorführen, wie die Entwerfer um 1930 mit herkömmlichen optischen Zusammenhängen brachen. Es folgen vier Innenraumausstattungen der Zeit, darunter eine Küche mit keramischer Nudelholzrolle und Brotkiste – selbstverständlich in Spritzdekortechnik – sowie ein Art Déco-Zimmer in kräftigem Grün und mit der typischen Extravaganz und Raffinesse dieser Stilrichtung. Glanzstück ist eine vierfarbige Porzellangarnitur (statt der sonst üblichen zwei bis drei Farben), die erst im dritten Brand gespritzt wurde.

    Was damals entwickelt wurde, hat sich vielfach bis heute bewährt, so – im niedrigeren Preissegment – die Stapelware. Auch hat die Staatliche Majolika Manufaktur in Karlsruhe noch heute die ausgestellte Espressotasse und den Weinkühler mit Spritzdekor in Produktion. Aufgereihte Tortenplatten, Kakteentöpfe, Dosen und die charakteristischen Kakaokannen zeigen Dekorgruppen in verschiedenen Farbvarianten. Hier lässt sich das sanfte Auslaufen der Farbe im Gegensatz zur streng begrenzten geometrischen Form beobachten. Auffallend an diesen Gebrauchsgegenständen ist die Widersprüchlichkeit von konventioneller keramischer Form und modernem Dekor, das man ohne weiteres auch in die fünfziger / sechziger Jahre datieren könnte. Nach bisherigem Kenntnisstand dürfte der Schwerpunkt der Spritzdekorproduktion in Deutschland gewesen sein. Die sechs führenden Porzellanfabriken werden im vierten Ausstellungsblock kurz porträtiert, darunter Villeroy und Boch, Theodor Paetsch in Frankfurt oder Carstens-Uffrecht mit seinen damals sechzehn Werken und dreitausend Beschäftigten. Ein charakteristischer Stil lässt sich ihnen nicht ohne weiteres zuordnen. Ihre zumeist anonymen Entwerfer ließen sich allesamt vom Zeitgeist inspirieren und haben wohl manchmal auch auf den Tisch der Kollegen geschielt.

    Eine Ausstellung des Badischen Landesmuseums Karlsruhe in seiner größten Zweigstelle, dem Museum beim Markt, das Angewandte Kunst seit 1900 zeigt und eine der bedeutendsten Jugendstilsammlungen in Deutschland hat. Die Ausstellung läuft bis 9. Juli. Katalog: 248 S., Preis: 35,-Euro (Hatje Cantz).