Freitag, 19. April 2024

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Axel

Dem Buch "Axel" von Bo Carpelan geht großes Lob voraus: Lars Gustafsson schreibt in "Palast der Erinnerung", dieses Buch sei das "fast vollendete Porträt" einer besonderen Sorte des künstlerischen Menschen, der dem "Künstler gefährlich nahe" steht: "Er weiß, wie man es macht, hätte es vielleicht besser machen können. Und kann es (doch) nicht machen". Die Rede ist von Baron Axel Carpelan, einem zeitgenössischen Anhänger und Förderer des finnischen Komponisten Jean Sibelius, dem Großonkel des Autors Bo Carpelan. Dieser Axel wird an seinem 41. Geburtstag im Jahr 1899, also in der Abenddämmerung des ausgehenden Jahrhunderts, zugeben müssen, daß er "eine Neue Musik hört, sie aber nicht niederschreiben kann". Aber Eines bleibt ihm doch zu tun übrig: er unterstützt, materiell und immateriell, eben den Komponisten, von dem er spürt, daß er diese ungehörte und unerhörte Musik niederzuschreiben versteht: Jean Sibelius.

Matthias Sträßner | 01.01.1980
    Wer ist dieser Axel Carpelan? 1858 geboren, ist er das immer kranke, schwächliche Kind einer großen Familie und ständiger Außenseiter. Schon als Kind spielt er verzückt wagemutige eigene Kompositionen auf der Geige. Aber schon wenn er anderen vorspielen soll, spielt eher die Geige mit ihm wie ein übergroßer Fisch mit der Angel. Aber auch wenn dieser Axel zur Einsamkeit geradezu prädestiniert ist, "unter den Kleidern brennt er nach Zärtlichkeit". Seine privaten Beziehungen zu heiratsfähigen Mädchen seines Alters führen zu desaströsen Auftritten in der finnischen Gesellschaft: Anstands-Besuche bei den betuchten Eltern eines umworbenen Mädchens münden in der Erkenntnis, daß er wohl "einer von diesen Stoffen (sei), die Direktor Holmström nie zum Verkauf freigeben würde." Verzweifelt über sich selbst, übergibt er auf dem Rückweg von diesem Anstandsbesuch seine geliebte Geige dem Wasser. Eine spätere Beziehung gerät nicht weniger ungelenk: Rachel und Axel werden bald getrennte Wege gehen. Rachel heiratet einen anderen und durchläuft eine Phase fanatischer Gläubigkeit. Aber sie wird ihren Sohn doch nach Axel benennen. Und sie steht über dem weiteren Leben Axel Carpelans wie ein kaum zu sehender, aber doch immer vorhandener Stern.

    Fast mit Beginn des neuen Jahrhunderts fällt plötzlich Licht in das musikalische Leben des Barons Axel Carpelan. Er lernt den Komponisten Sibelius kennen: zunächst aus den Schriften des deutsch-schwedischen Musikschriftstellers Adolf Paul. Dieser ist als Schaltstelle für die Rezeption Skandinaviens in Deutschland nicht zuletzt durch seine Auftritte im Berliner Lokal "Das schwarze Ferkel" einschlägig bekannt. Sein Schauspiel "König Kristian II." hat Sibelius im Jahr 1898 vertont. Axel getraut sich erst nach langem Zögern, dem sieben Jahre jüngeren Sibelius zu schreiben. Zunächst anonym, später offen. Dann bietet er dem Komponisten das "Du" an, was freundlich angenommen wird. Schließlich kommt es zu einer privaten Einladung in das Haus des Komponisten. Eine lebenslange Freundschaft beginnt, die auch nach außen sichtbar wird, denn Sibelius widmet Carpelan seine 2.Sinfonie.

    Dabei verläuft die Beziehung zwischen Axel und Janne alles andere als konfliktfrei. Entfremdungen treten ein, wenn Sibelius in Anfällen von "Lebemannfaçon" sich in das "Kneipenleben seiner Halbweltherren" hineinziehen läßt und dabei auch einmal seinen eigenen Freund demütigt. Oder wenn Axel zu einer Veranstaltung eingeladen wird, von weither anreist, dann aber das zugesagte Eintrittbillett nicht hinterlegt ist.

    Aber all das wird Axel nicht hindern, da zu helfen, wo zu helfen ist. Und als ihm selbst die materiellen Voraussetzungen immer mehr entgleiten, macht er sich bereitwillig zum Verfasser von Bettelbriefen für Sibelius.

    Im Gegensatz zu Sibelius ist Axel politisch und geschichtlich sensibilisiert: durch seine Brille erlebt der Leser das "Tauwetter" unter Zar Alexander II., er erlebt wie noch 1880 in Finnland das 25jährige Jubiläum der Regentschaft harmonisch gefeiert werden kann, wie aber mit dem Attentat auf Alexander II. im Jahr 1881 ein Umschwung beginnt, der sich immer mehr steigert, bis schließlich - kurz nach der Ermordung Rasputins - Finnland im Jahr 1917 seine Selbständigkeit ausruft. Axel ist ein Seismograph der finnischen Freiheitsbewegung, weit mehr als der Komponist selbst mag auch dessen "Finlandia" die Fanfare für die Nationalbewegung abgeben. Gerade zu dieser Nationalbewegung hat Axel ein eher gespaltenes Verhältnis: für ihn führt der "Weg zu einem tieferen Nationalismus über den Internationalismus". Er will das Nationale durch das Besinnen auf das "Universale" aufheben: das Lied von finnischer Erde ist ihm eher ein "Lied von der Erde" denn ein Lied von Finnland. Die nordischen Quellen, die Carpelan und Sibelius gleichermassen benutzen, leiten also kein Wasser auf die Mühlen nationalistisch instrumentalisierter Kunstmusik wie etwa bei Richard Wagner. In der Musik Richard Wagners liegt für Axel "etwas Schwülstiges wie eine Bierfontäne". Dagegen schätzt Axel den österreichischen Komponisten Anton Bruckner, als dieser noch kaum wahrgenommen wird.

    Axel Carpelan erinnert in seinem Wesen an Gestalten von E.T.A.Hoffmann: Bo Carpelan gibt uns dazu Tagebucheinträge seines Onkels und da, wo sich biographische Punkte existentiell verdichten und zu Knoten werden, schildert er seinen Onkel selbst in Er-Form.

    Der Leser kann sich mit den im Tagebuch immer wieder angesteuerten Geburtstagen am 15. Januar Orientierungspunkte über den Verlauf dieser Biographie verschaffen: beginnend mit dem 10. Geburtstag im Jahr 1868, bis zum 60. Geburtstag kurz vor seinem Tod, der mit einem ergreifenden Breif von Sibelius gekrönt wird. Dazwischen liegen Festtage, an denen Axel nicht mehr festellen kann, als überlebt zu haben oder ganz einfach fremd in seinem eigenen Körper zu sein.

    Vieles steht nicht in diesem Buch, das auch eine Biographie über Sibelius ist. Kann nicht in ihm stehen. Schließlich findet es mit dem Todesjahr von Axel Carpelan im Jahr 1919 seinen Abschluß, und Sibelius wird seinen Freund fast 40 Jahre überleben (bis 1957). Aber das Buch läßt sehr wohl ahnen, wie Sibelius im Dritten Reich zu den nordischen Komponisten gehört, denen die nordischen Quellen gründlich verdorben sind und die deswegen frühzeitig verstummen: der Mensch Sibelius überlebt den Komponisten fast um 30 Jahre. Sein 70. Geburtstag wird trotzdem pompös begangen mit Konzerten unter anderem von Furtwängler, der 1935 die 7. Sinfonie dirigiert. Dieses Buch läßt aber auch ahnen, wie wenig Adornos kleine Attacken auf Sibelius diesem gerecht werden.

    Carpelans Sibelius-Buch gehört in die Reihe literarischer Biographien von Komponisten, die der wissenschaftlichen Überprüfung sehr wohl standhalten und über diese häufig hinausgehen. Man wird Carpelans Sibelius-Buch insofern zu vergleichen haben mit Dieter Kühns Clara Schumann, mit Härtlings Schubert, Hultbergs Chopin, oder auch Klaus Manns Tschaikowsky-Roman. Dabei wird der Leser unschwer erkennen, daß das, was Bo Carpelan hier zwischen Grillparzers "Armer Spielmann" und Hans Henny Jahnns skandinavischer Musik-Mystik neu bietet und darlegt, eine wunderschöne Ergänzung dieses Genres ist.