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Ayatollah Ayazi aus dem Iran
Gegen die theokratische Diktatur

Seyyed Mohammad Ali Ayazi ist Ayatollah, also eine Autorität für Muslime im Iran. Er machte bei der "Islamischen Revolution" 1979 mit. Jetzt plädiert er für einen Islam, in dem Menschenrechte wichtiger sind als Vorschriften. Was ist liberale Fassade, was mutige Systemkritik?

Von Sven Weniger und Michael Marek | 25.04.2018
    Der iranische Ayatollah Seyyed Mohammad Ali Ayazi
    Der iranische Ayatollah Seyyed Mohammad Ali Ayazi (Deutschlandradio / Sven Weniger)
    "Die Proteste Ende 2017 in der Stadt Maschhad im Nordosten Irans waren absolut gerechtfertigt. Doch die Art und Weise, wie Autos in Brand zu setzen oder zu plündern, das ist nicht der richtige Weg. Der richtige Weg ist der parlamentarische, der Gang durch die Institutionen."
    Seyyed Mohammad Ali Ayazi ist Ayatollah, 64 Jahre alt, ein Mann von schlanker, asketischer Gestalt. Unter dem einfachen, dunklen Anzug trägt er ein weißes Hemd; darüber einen braunen Umhang, keine Schuhe. Das Haar wird von einem schwarzen Turban bedeckt, der ihn als direkten "Nachkommen des Propheten" ausweist.
    Recht auf eigenständige Koranauslegung
    Hier, im Audienzzimmer seines Wohnhauses in Ghom, 150 Kilometer südlich der Hauptstadt Teheran, stehen Tausende Bücher in Reihen hoher Regale. Ghom ist der Sitz des iranischen Klerus. Der ist, anders als im Ausland wahrgenommen, kein monolithischer Block: Hunderte Mudschtaheds, islamische Rechtsgelehrte, unterrichten etwa 86.000 Studenten. Ayatollahs erwerben den Titel durch Anerkennung ihrer Universitätsstudien. Sie haben das Recht, den Koran eigenständig auszulegen und sind befugt, Rechtsgutachten, Fatwas, auszustellen. Dementsprechend groß ist das Spektrum ihrer Meinungen – von denen Ultrakonservativer über den Mainstream der Mehrheit bis zu progressiven Kräften wie Ayazi, die keinen Hehl machen aus der Notwendigkeit von Reformen und dafür keine Repressalien befürchten müssen:
    "Wir alle hier sind Geistliche. Wir vertreten die Interessen unserer Religion. Aber es gibt zwei Perspektiven darauf. Verkürzt könnte man sagen: In der einen geht es darum, dass sich der Mensch der Religion unterordnet, in der anderen, dass sich die Religion dem Menschen beugt. Wir sind der Auffassung, dass die Religion dem Menschen dienen muss, nicht umgekehrt. Das ist auch der Ausgangspunkt, an dem wir die Menschenrechte zur Sprache bringen müssen. Aber alles, was ich dort sage, das will ich betonen, basiert auf dem Koran, meine Interpretationen sind dort belegbar."
    Viele Frauen im Iran demonstrierten gegen das Kopftuch-Gebot. Mehrere Frauen sind abgebildet, die ihre Kopftücher auf Stöcken vor sich hertragen.
    Viele Frauen im Iran demonstrierten gegen das Kopftuch-Gebot (Twitter/Screenshot/Deutschlandfunk)
    Im Dezember 2017 kletterte eine junge Frau auf einen Verteilerkasten der vielbefahrenen Enghelab Straße in Teheran. Sie nahm ihr weißes Kopftuch ab, steckte es an die Spitze eines Stabes und begann, diesen hin- und herzuschwenken. Ohne ein Wort zu sagen. Der stumme Protest gegen den Kopftuchzwang einer 30-jährigen jungen Mutter mit langen dunklen Haaren. Ihr Name, Vida Movahed, wurde erst bekannt, nachdem sie festgenommen worden war.
    Dazu Ayazi: "Ich kenne Vida Movahed nicht. Natürlich habe ich Bilder und Berichte von Frauen gesehen, die derartige Aktionen gemacht haben. Ich verurteile sie nicht und kann sie auch verstehen. Ich bezweifele aber, ob das der richtige Weg ist. Der Hijab, also, dass die Frau sich verschleiert, ist ein Teil des Islam. Jemanden dazu zu zwingen, gehört nicht zum Islam. Jede Frau soll sich frei entscheiden, ob sie ihn tragen will oder nicht. Es geht ja nicht allein um den Hijab, sondern vor allem darum, dass wir allgemein Toleranz zeigen, unterschiedliche Meinungen akzeptieren und respektieren. Meine Befürchtung bei solcher Art des Protestes ist, die Lage könnte eskalieren. Und ich will nicht, dass das passiert. Als das Hijab-Gesetz 1981 im Parlament verabschiedet wurde, war nur eine minimale Mehrheit dafür. Der richtige Weg wäre also, das Thema wieder im Parlament zu debattieren. Was ich sagen will: Man muss für solche Veränderungen die richtige Plattform schaffen."
    Gegen die theokratische Diktatur
    Seyyed Mohammad Ali Ayazi gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Koranwissenschaftlern des Iran und ist mehrfach von der EU und nach Deutschland zu Vorträgen eingeladen worden. Immer wieder betont er das Prinzip der Barmherzigkeit Gottes. Ein Prinzip, das in der Politik keine Rolle spielt. Der Iran hat Interessen und bedient Interessen anderer. Folgt man dem Blickwinkel Russlands, der Türkei, Chinas, dann gibt es keine Zukunft im Nahen Osten ohne die Beteiligung der Regionalmacht. Folgt man Israel, Saudi Arabien und den USA, ist der Iran das Reich des Bösen, dessen Regime lieber heute als morgen gestürzt gehört. Dass sein Land kritisiert wird, nimmt er gelassen.
    "Das Land wird stark kritisiert. Das finde ich gut. Früher kam Kritik nicht gut an, man hat ja hier davon auch wenig mitbekommen. Aber jetzt haben wir das Internet. Dadurch, durch Social Media und verschiedene Apps, kann jeder Nachrichten vermitteln und empfangen, auch aus dem Ausland. Daher weiß man hier, welches Image der Iran dort hat. Das ist eine sehr gute Plattform für Kritik."
    Reformen im Iran – für einen Geistlichen, der in Ghom, dem Zentrum der religiösen Führung des Landes, lebt und arbeitet, sieht Ayatollah Ayazi als Vorbild den philosophisch-sozialistisch geprägten Ansatz eines großen Atheisten und Nobelpreiträgers:
    "Vor 20 Jahren schrieb ich einen Artikel, in dem ich mich auf ein Buch von Bertrand Russell bezog: Macht. Darin beschreibt er sie als die Triebfeder menschlichen Handelns. Freud sagt, die Sexualität sei diese Triebfeder, Marx glaubt, ökonomische Prozesse bestimmten die Entwicklung einer Gesellschaft. Ich glaube, es kommt darauf an, wie man mit Macht umgeht. Bei der Frage der Macht hört der Spaß auf. Sie muss kontrolliert werden, darf nicht konzentriert, nicht stets in denselben Händen sein. Das Volk braucht mehr Einfluss, muss mitbestimmen, wem Macht übertragen wird. Macht muss zeitlich begrenzt sein. Ich glaube, wenn wir im Iran von Reformen reden, muss dies ein zentraler Punkt sein. Schon während der konstitutionellen Revolution im Iran von 1905 sagte einer der wichtigsten Geistlichen jener Zeit, Allamah Na'ini: Schlimmer als eine Diktatur ist eine theokratische Diktatur. Und dem kann ich nur zustimmen."
    "Wir wussten nur, dass wir den Schah loswerden wollten"
    2019 wird im Iran der 40. Jahrestag der islamischen Revolution gefeiert werden. Schon jetzt ist absehbar, dass es dabei nur zwei offizielle Betrachtungsweisen geben wird: Jubel auf der einen und Verdammung auf der anderen Seite. Ayazi war einer der Revolutionäre. Kann man von einem Kleriker, einem Rechtsgelehrten des Islam, einem Mudschtahed und Ayatollah aus dem Zentrum der religiösen Führung des Landes etwas Anderes als uneingeschränkten Jubel erwarten?
    "Ich bin, wie ich anfangs sagte, Optimist. Meine Bilanz ist also positiv. Wir haben in vierzig Jahren viel gelernt. Ich sehe auch die Kritik, die Herausforderungen. Für mich ist das ein Weg, ein Prozess in Richtung auf Reformen. Wir haben damals die Revolution angestoßen, ich war ja einer der Beteiligten. Aber wir wussten nur, dass wir den Schah loswerden wollten, mehr wussten wir nicht, auch nicht, was daraus werden würde. Heute sind wir Iraner einen Schritt weiter. Ein Beweis dafür sind auch die Unruhen, die wir zum Jahreswechsel hatten. Die Mehrheit der Bevölkerung mag mit den Demonstranten sympathisiert haben. Aber sie hat nicht bei den Unruhen mitgemacht, weil ihnen Sicherheit im Land und Stabilität wichtiger waren. Das ist eine Reife, die ich in meinem Volk sehe. Und ich hoffe, dass dies so weitergeht, Veränderungen auf friedlichem Weg passieren."
    Ruhe als Zeichen der Reife – auch Ayazis kritischer Blick auf den Zustand des Iran stabilisiert das System.