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Bachmann-Preis Tag eins
Kein Grund für Identitäten!

Mit den Lesungen von fünf Autorinnen und Autoren wurde heute das Klagenfurter Wettlesen um den Ingeborg Bachmann-Preis eröffnet – wie bereits im vergangenen Jahr Corona bedingt ohne Saalpublikum. Es gab Texte über den weiblichen Körper und politische Interventionen.

Von Jan Drees und Christoph Schröder | 17.06.2021
Die Jury bei der Eröffnung den 45. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt
45. Tage der deutschsprachigen Literatur - Ingeborg Bachmannpreis 2021: die Eröffnung (ORF / (c) Puch Johannes)
Es sind 14 Autorinnen und Autoren, deren Lesungen bereits im Vorfeld aufgezeichnet wurden und sieben Jurorinnen und Juroren mit der neuen Jury-Vorsitzenden Insa Wilke an der Spitze: die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur, live aus dem Klagenfurter ORF-Studio. Am Sonntagvormittag werden unter anderem der Ingeborg Bachmann-Preis und der Deutschlandfunk-Preis verliehen. Bereits gestern wurde der traditionsreiche Wettbewerb mit der Klagenfurter Rede zur Literatur des Alt-Juryvorsitzenden und ehemaligen Deutschlandfunk-Literaturredakteurs Hubert Winkels eröffnet. Explizit hat Winkels seine Rede als einen Beitrag zur Literaturkritik gekennzeichnet. Die reglementierte und nicht zweckgebundene Form der Kritik schätzt er als gefährdet ein. Für sein Plädoyer hat sich Winkels diverse Gewährsleute aus der Literaturgeschichte an die Seite geholt:
"Narrative sind, mit Theodor Lessing gesprochen, sprachlich elaborierte Sinngebungen des Sinnlosen. Sie wirken auf der kleinsten Ebene der Begründung eines persönlichen Seufzers oder der politischen Verallgemeinerung einer privaten Zurücksetzungserfahrung über Rechtfertigungen kriegerischer Einsätze bis zur geschichtsphilosophisch plausiblen Herleitung der Gegenwart. (...) Es gibt eine kulturelle Technik, die hier Einblick und entstellenden, gegebenenfalls zersetzenden Zugriff hat, über lange Zeit erarbeitet, immer weiter verfeinert, hoch differenziert und äußerst flexibel, im Kern von Sympathie getrieben: die Literaturkritik nämlich als Narrationskritik und damit zur gesellschaftlichen Allzuständigkeit erhoben – und damit zwingend auch zu deren genauem Gegenteil, der attraktiven Für-Nichts-Zuständigkeit. Kein Grund für Identitäten!"

Ein wunderbares Meta-Geschehen

Katrin Schumacher erkannte im Dlf-"Büchermarkt" eine "Ermächtigungsrede für die Literaturkritik" und sah sich erinnert an die "Rede zur Literatur", die der Schriftsteller Clemens J. Setz 2019 in Klagenfurt gehalten hatte unter dem Titel: "KAYFABE UND LITERATUR". Setz habe hier die Gescriptetheit der Welt herausgearbeitet am Beispiel des Wrestlingsports, und gezeigt, dass Literatur die Fähigkeit hat, Narrative zu entlarven, während Winkels daran anschließend 2021 demonstriert habe, wie Kritik die entlarvenden Narrative der Narrative untersuche. Das sei ein "wunderbares Meta-Geschehen."
Eröffnet wurde der erste Lesungsvormittag von Julia Weber und Heike Geißler. In beiden Texten ging es um Körper, um proletarische Prinzessinnen, beiderseits um Frauen, die über ihre Lebensmitte schreiten, die über 40 Jahre alt sind und die versuchen, sich in der alten und doch nicht mehr heimisch erscheinenden Welt zu verorten. Julia Weber präsentierte die sexuell explizit geschilderte Geschichte einer Entdomestizierung, "hier und da ein bisschen ungeschickt", urteilt Schumacher, die dagegen überzeugt war von "Die Woche", der Geschichte von Heike Geißler, die "immens offen und politisch war." Die 1977 in Leipzig geborene Autorin sehe Texte als Intervention und dem folgend stünde auch im Text "eine Frau von 40 Jahren, verstrickt in ihre Umstände, die sich eine auktoriale Erzählerin wünscht, die das große Narrativ aufbringt", ein Narrativ, das sich aber nicht einstelle.

Unterschied zu Kafka

Die dritte Geschichte "Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben", des Theaterautors Necati Öziri kommt als Brief, gerichtet an einen abwesenden Vater. Das hier mit Franz Kafkas "Brief an den Vater" Verbindende erkannte Christoph Schröder in der problematischen Vaterfigur einerseits und in den Schwierigkeiten des schreibenden Ichs andererseits, "denn gezeigt wird", sagte Schröder, "dass sich dieses Ich auch erst selbst aus dem Text schöpfen muss." Der Unterschied zu Kafka sei wiederum Öziris Versuch, den abwesenden Vater "zu erschreiben, herbeizuschreiben, nicht von sich wegzustoßen, sondern an sich heranzuholen." Möglicherweise sei hier ein Text präsentiert worden, der Chancen habe auf den Publikumspreis, während Schröder gleichzeitig urteilte, dass der heutige Lesungstag von mittlerer Güte gewesen sei.
Nach der Mittagspause folgte dann die Österreicherin Magda Woitzuck mit ihrem Wettbewerbsbeitrag "Die andere Frau". Darin erzählt Judith, die Protagonistin, dass sie einmal gelesen habe, "dass der Schädelknochen einer Frau im Schnitt sieben Millimeter dich ist, der eines Mannes aber nur sechseinhalb. Vielleicht, weil Frauen öfter Gefahr laufen, erschlagen zu werden. Oder weil in ihren Köpfen so viele Gedanken passieren, die nicht hinausdürfen, die eingesperrt bleiben müssen, weil sonst alles zusammenbrechen würde, denkt Judith, Ehen, Familien, die Welt, all das kann nur funktionieren, wenn jemand schweigt."

Wahnsinnig klischierte Idee

Dieser Absatz wurde gelesen vor einer überwiegend weiblich besetzten Jury eines nach einer Frau benannten Literaturpreises, zu dem 2021 mehr Frauen als Männer eingeladen wurden. "Eine wahnsinnig klischierte Idee", urteilte Katrin Schumacher und zeigte sich über diese Stelle "ein bisschen entsetzt", denn sie wolle sich 2021 nicht von einem Text erzählen lassen, "dass es Frauen gibt, die schweigen müssen, damit ihr Leben funktioniert."
"1709,54 Kilometer" von Katharina J. Ferner beschloss den ersten Lesungstag mit einem auch die Jury zum Teil ratlos zurücklassenden Mikropoesie-Flickentext, dessen Satz "Mir träumt: siebzehn Hektar Meer" immerhin die Sehnsucht wachrief nach dem realen Wörthersee. An den darf möglicherweise 2022 die Literaturszene zurückkehren, um nach den Lesungen die Narration gegen das Nass einzutauschen.