Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Baden-Württemberg
Zwischenbilanz nach fünf Jahren Gemeinschaftsschule

Eine Schulform für alle statt drei getrennte, Lerngruppen statt Klassen, persönliches Coaching: Baden-Württemberg blickt auf fünf Jahre Gemeinschaftsschule zurück. Es gibt Erfolge, aber auch Kritik, denn weiterhin wird nach Leistungsniveaus unterschieden.

Von Thomas Wagner | 13.11.2017
    Schüler lernen in Partnerarbeit in einer Mathematikstunde in der 7. Klasse der Gemeinschaftsschule Seewiesenschule am 15.04.2016 in Esslingen (Baden-Württemberg)
    In Baden-Württembergs Gemeinschaftsschulen wie hier in der Esslinger Seewiesenschule wird nicht mehr in Klassen unterrichtet, sondern in Lerngruppen. Von Pädagogen gibt es Erfolgsmeldungen über die ersten fünf Jahre mit dieser Schulform für alle (picture alliance / dpa / Deniz Calagan)
    "Ich war immer schlecht. Meine beste Note immer eine vier. Dann kam ich auf eine Erziehungsschule. Weil ich war auch ein Problemkind damals."
    Am Anfang lief es ziemlich unrund im Bildungs-Leben von Beasar Ceku. Und heute? Dass der junge Mann alsbald einen guten Abschluss schafft, ist so gut wie sicher. Einen Ausbildungsvertrag hat er bereits in der Tasche. Beasar Ceku besucht seit vier Jahren die Gemeinschaftsschule im baden-württembergischen Döffingen:
    "Wenn ich Probleme in der Schule hat oder persönliche Probleme, dann spreche ich das einfach an. Und der Lehrer hilft halt, einen zu motivieren."
    Zweier- Gespräche zwischen Lehrer und Schüler sind ein wichtiger Baustein im Konzept der Gemeinschaftsschulen in Baden-Württemberg.
    "So bauen wir die Kinder nach und nach auf"
    Und die Fachleute haben einen eigenen Begriff dafür geprägt, nämlich "das Coaching. Das find' ich das Allerwichtigste, weil wir einfach im persönlichen Gespräch mit den einzelnen Schülern sind. Die können einfach über ihre Stärken reden. Und auch wir reden über ihre Stärken oder auch über ihre Schwächen. Wo ist noch Förderbedarf? Und da öffnen sich unter vier Augen ganz andere Perspektiven als vor der ganzen Klasse", so Antje Kopp, Lehrerin an der Gemeinschaftsschule Döffingen:
    "Wir bauen das natürlich dementsprechend auf die Leistung, dass wir einfach sagen: Wir trauen Dir da mehr zu. Warum bist Du nur im G-Niveau? Schau mal, zu zeigst doch diese und jene Leistung – versuch's doch mal im M-Niveau. Und so bauen wir die Kinder nach und nach auf."
    Abbau sozialer Grenzen
    Hinzu komme der Abbau sozialer Grenzen unter dem Dach der Gemeinschaftsschulen: Saskia Esken, SPD-Bundestagsabgeordnete aus Stuttgart und Mitglied im Bildungsausschuss:
    "Das hat diese Berliner Studie eben ergeben, dass es dort an den Gemeinschaftsschulen sehr gut gelungen ist, den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft abzukoppeln, nachgewiesenermaßen eben insbesondere Schüler mit geringem Bildungshintergrund der Elternhäuser, dass die dort sehr gut unterstützt werden konnten und infolgedessen sehr gute Schulleistungen erbringen konnten, gerade in den klassischen Fragen, Lesen, Schreiben, Rechnen."
    Zahl in fünf Jahren mehr als versiebenfacht
    Aus all diesen Gründen sei es kaum verwunderlich, dass es in Baden-Württemberg in den vergangenen fünf Jahren einen regelrechten Boom gegeben habe: Mit 42 Gemeinschaftsschulen ging die damalige grün-rote Landesregierung an den Start. Heute gibt es zwischen Mannheim und Bodensee 307 Gemeinschaftsschulen, nun allerdings unter einer grün-schwarzen Landesregierung. Und das Kultusministerium ist nicht mehr wie einst SPD-, sondern CDU-geführt – mit Kultusministerin Susanne Eisenmann an der Spitze.
    "Die Kultusministerin lässt die Gemeinschaftsschulen weiterlaufen", so Doro Moritz, GEW-Landesvorsitzende. Allerdings: "Sie unterstützt sie aber nicht."
    Doro Moritz wirft der Kultusministerin vor, nicht genügend Lehrer bereitzustellen. Daneben dürfte die Nachfrage nach Gemeinschaftsschul-Plätzen nicht künstlich ausgebremst werden.
    Konkurrenz zwischen den Schulformen reduzieren
    "Das muss auch heißen, dass die schwierige Konkurrenz der Schularten in nahen Entfernungen reduziert werden muss. Wir brauchen im Zuge der regionalen Schulentwicklung Klärungen."
    Und zwar so, dass ein paar Straßenzüge von einer Gemeinschaftsschule entfernt nicht unbedingt eine Realschule oder ein Gymnasium ebenfalls um Schüler wirbt, sagt die Gewerkschaftsvorsitzende, zumal die Gemeinschaftsschulen im Vergleich zu den klassischen Hauptsh- und Realschulen sowie den Gymnasien immer noch in der Minderzahl seien.
    Auch hier werden Leistungsniveaus unterschieden
    Außerdem wurden auf dem Stuttgarter Treffen auch Forderungen nach behutsamen Konzeptionsänderungen laut. Einerseits überwinde die Gemeinschaftsschule die Trennlinien zwischen den verschiedenen Schultypen. Andererseits würden die Schüler aber nach wie vor in unterschiedliche Leistungs- und Aufgabenmodule unterteilt, je nach Leistungsfähigkeit. Und das sieht Professorin Katrin Höhmann, Bildungsexpertin an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, kritisch. Sie fordert:
    "Nicht nur eine auf drei Niveaus ausgerichtete Aufgabenkultur: Das halte ich auch für einen Fehler: Wir haben jetzt in den Gemeinschaftsschulen unter der Hand über die drei Niveaus das dreigliedrige Schulsystem zementiert."
    Hier müsse nachgebessert werden.
    Bürgermeister: "Die Schulen brauchen Ruhe"
    Werner Bundschuh, Bürgermeister der kleinen südbadischen Gemeinde Schliengen und glühender Fan von Gemeinschaftsschulen, wünscht sich dagegen etwas ganz anderes – und erhält dafür viel Zuspruch:
    "Die Schulen brauchen Ruhe. Die Gemeinschaftsschule muss mal aus dem ideologischen Feld raus und anerkannt und akzeptiert werden. Es gibt Beispiele in Deutschland und es gibt Beispiele in Europa, dass Gemeinschaftsschulen einen Stellenwert, einen Grad haben in der Schullandschaft."