Donnerstag, 18. April 2024

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Bagatell-Delikte von Flüchtlingen
"Die mediale Diskussion war völlig überzogen"

Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt hat die Vorwürfe gegen die Kieler Behörden im Zusammenhang mit Bagatell-Delikten von Flüchtlingen erneut zurückgewiesen. Tatsächlich seien in jedem Fall Strafanzeigen erstellt und strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden, sagte der SPD-Politiker im DLF. Von einer Kapitulation des Rechtsstaates könne also nicht die Rede sein.

Stefan Studt im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 30.01.2016
    Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt (SPD) sitzt am 04.11.2015 in Kiel (Schleswig-Holstein) bei einer Pressekonferenz.
    Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt (SPD) (picture alliance / dpa / Carsten Rehder)
    Die Vorwürfe gegen die Polizei in Köln waren noch nicht verklungen, als vor kurzem eine Vereinbarung zwischen der Polizei und der Staatsanwaltschaft in Kiel für Aufmerksamkeit sorgte: Danach wurden die Beamten von der Pflicht befreit, Bagatelldelikte wie Ladendiebstähle von Flüchtlingen ohne Ausweispapiere zu verfolgen. Studt erinnerte in diesem Zusammenhang an die Situation im letzten Jahr, als allein nach Schleswig-Holstein 55.000 Asylsuchende kamen. Weitere 60.000 seien auf der Durchreise gewesen und hätten oftmals am nächsten Tag die Fähren bestiegen. In vielen Fällen sei die Strafverfolgung deshalb nicht umsetzbar gewesen. Studt betonte, die Vereinbarung zwischen den Behörden aus dem Oktober sei vorläufig gewesen. Die spätere Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, die der Regelung nicht zugestimmt habe, habe die Kieler Polizei nicht erreicht.
    Mit Blick auf die hohe Zahl der Asylsuchenden betonte der SPD-Politiker, man trage die damalige Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel zur Öffnung der Grenzen aus humanitären Gründen ausdrücklich mit. Allerdings habe dies die Verantwortlichen in Deutschland vor besondere Herausforderungen gestellt. Polizei und Justizbehörden seien weder personell noch institutionell auf die große Zahl eingestellt gewesen. Deshalb sei er froh, dass nun der Dialog über das weitere Vorgehen begonnen habe - etwa mit dem gestern beschlossenen Gesetz zum Datenaustausch. Jeder Flüchtling müsse registriert werden. Und dies müsse möglichst schnell umgesetzt werden, so Studt.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die Meldungen aus Kiel in dieser Woche haben ja aufhorchen lassen. Es hat ganz offensichtlich einen Erlass zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft gegeben, der in der Kurzfassung heißt: Flüchtlinge werden bei kleineren Diebstählen möglicherweise nicht mehr erkennungsdienstlich behandelt und vielleicht auch überhaupt nicht erfasst. Das war jedenfalls die Kurzfassung. Damit stand der Vorwurf im Raum, na ja, die Flüchtlinge werden besser behandelt als andere. Darüber wollen wir reden, ob das wirklich so war und sein durfte, mit Stefan Studt, dem Innenminister in Schleswig-Holstein, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Studt!
    Stefan Studt: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Gibt im Norden zweierlei Recht?
    Studt: Vielleicht müssen wir noch mal diese Dinge richtig einordnen. Was Grundlage der Diskussion ist, ist eine vorläufige Vereinbarung der Staatsanwaltschaft in Kiel mit der Polizeidirektion in Kiel, die im Oktober 2015 getroffen wurde. Für uns in Schleswig-Holstein war das der Monat September und auch Oktober mit den stärksten Zugängen, wir haben über 55.000 Menschen als Asylsuchende in Schleswig-Holstein gehabt, über 10.000 in den jeweiligen Monaten September/Oktober. Wir haben über 60.000 Transitflüchtlinge gehabt, die insbesondere durch Kiel, aber auch über Flensburg und Lübeck dann nach Skandinavien weitergereist sind. Und in dieser Vereinbarung als vorläufige Vereinbarung, nicht als Erlass beschrieben, geht es in der Tat um die Frage, inwieweit in den wenigen Fällen von Kleinstdiebstählen, wo eine Identitätsfeststellung nicht möglich ist, weil die Verweigerung da ist, keine Ausweispapiere vorgelegt werden können, kein Wohnort durchsucht werden kann, dann in solchen Fällen als vorsorgliche Handlungsanleitung für die Kolleginnen und Kollegen der Landespolizei in Kiel eine solche Vereinbarung getroffen wurde, die von der Personenfeststellung absieht. Nicht – und das ist mir ganz wichtig – von Strafanzeigen, die gestellt und erstellt werden. Und auch von der Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, all diese Dinge haben ganz normal so stattgefunden, wie sie auch sonst in allen Fällen stattfinden. Die Dinge sind gezählt, sie sind registriert, sie sind aufgenommen worden.
    Zurheide: Nur, wenn ich die Person nicht feststellen kann, was nutzt das dann alles?
    "Das ist eine vorläufige Vereinbarung gewesen"
    Studt: Das ist genau der Punkt, um den es dann geht, um den es den Kieler Kolleginnen und Kollegen dann auch in der Situation ging, weil sie gesagt haben, in der Tat, das sind die Fälle – noch mal deutlich gesagt –, die bei uns am Tag in Kiel angekommen sind mit der Bahn, am Bahnhof angekommen sind, die mit der Fähre dann am nächsten oder am übernächsten Tag weitergereist sind, wie gehe ich in diesen Fällen damit um, wo ich am Ende weiß, dass eine strafprozessuale Verfolgung über ein wie auch immer geartetes staatsanwaltschaftliches und möglicherweise gerichtliches Verfahren dann auch nicht realisierbar, nicht umsetzbar ist. Also, einfach die Verhältnismäßigkeit zu bewerten zwischen der Strafverfolgung, der Strafverfolgungsmöglichkeit auf der einen Seite und eben den tatsächlichen Herausforderungen auf der anderen Seite. Noch mal deutlich gesagt: Das ist eine vorläufige Vereinbarung gewesen, die die beiden Institutionen Staatsanwaltschaft Kiel und Polizeidirektion Kiel im Oktober getroffen haben. Wir wissen mittlerweile, dass die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Schleswig-Holstein dieser Regelung nicht zugestimmt hat, das ist dann auch noch mal eine andere Situation, das heißt also, auch die richtige Einordnung dann vorzunehmen … Und was wir haben – und das ist das, worüber wir momentan intensiv diskutieren –, warum die anderslautende Einschätzung von der Generalstaatsanwaltschaft unsere Polizeidirektion in Kiel nicht erreicht hat, damit auch die wiederum diese Vereinbarung, die ja als vorläufig beschrieben wurde, dann hätte sofort zurücknehmen können und ihren Kolleginnen und Kollegen auf der Straße eine andere Handlungsempfehlung aussprechen können.
    Zurheide: Das ist aber eben nicht angekommen. Also auf Deutsch: Ist jetzt danach gehandelt worden oder ist nicht danach gehandelt worden?
    Studt: Nein, deswegen noch mal ganz deutlich an der Stelle gesagt: Diese vorläufige Vereinbarung von Anfang Oktober ist nicht aufgehoben worden, weil die Information der Rechtsmeinungsänderung der Generalstaatsanwaltschaft, die die Rechtsmeinung der Staatsanwaltschaft Kiel nicht übernommen haben, nicht an die Polizeidirektion Kiel kommuniziert wurde. Das heißt, diese vorläufige Vereinbarung ist eine, die in der Tat nicht zurückgenommen worden ist. Wichtig ist aber auch noch mal festzustellen – und das haben die Kolleginnen und Kollegen vor Ort dann auch noch mal deutlich dargestellt –, in welchen Fällen ist von dieser vorläufigen Vereinbarung eigentlich überhaupt Gebrauch gemacht worden? Und an der Stelle auch noch mal gesagt, es geht nur um die Fälle, wo die Personenfeststellung, das Personenfeststellungsverfahren, das von der Strafprozessordnung geregelt ist, unverhältnismäßig ist, weil der Aufwand, der zu betreiben wäre, nicht leistbar wäre innerhalb der sogenannten Zwölfstundenfrist, die dort vorgegeben ist. Da wiederum sind wir in den ganz normalen strafprozessualen Regelungen, die für alle Tätergruppen gelten.
    Zurheide: Wenn wir jetzt einen Strich darunter ziehen: Die Menschen, die so was hören, sagen doch, das ist eine Katastrophe, da kapituliert der Rechtsstaat. Das kann möglicherweise daran liegen, dass wir die Menschen, die hier im Lande sind, nicht richtig erfasst haben. Wer da wieder für verantwortlich ist, da können Sie auf andere zeigen. Nur, da kapituliert der Rechtsstaat! Richtige Beobachtung?
    "Das ist eine besondere Situation gewesen"
    Studt: Nein, das würde ich an der Stelle so nicht unterschreiben wollen, dass der Rechtsstaat kapituliert, sondern ganz im Gegenteil. Gerade unsere Kolleginnen und Kollegen der Landespolizei haben wirklich mit allergrößtem Engagement diese Dinge dann auch aufgenommen und diese Herausforderung angenommen. Und richtig ist natürlich an der Stelle, dass wir in der Phase … Auch da noch mal bitte die Erinnerung an Anfang September, an die Wochen nach der Vereinbarung unserer Bundeskanzlerin mit dem österreichischen Bundeskanzler, die Grenze, die sonst ja für den Übertritt von Flüchtlingen, von Asylbewerbern, dann eine geschlossene ist, diese auch zu erfassen, diese Grenze zu öffnen, die Menschen ins Land zu lassen, was ich ganz ausdrücklich nachvollziehen kann und was wir hier in Schleswig-Holstein auch ganz ausdrücklich mit tragen, dass Frau Merkel diese Entscheidung aus humanitären Gründen getroffen hat … Das ist eine besondere Situation gewesen, dass in der Tat eine Vielzahl von Menschen tatsächlich von insbesondere Flüchtlingen, Ausländerinnen und Asylantragstellern nicht registriert im Land gewesen sind, das ist etwas, was wir glaube ich aus der Situation heraus alle noch mal reflektieren sollten. Ist das, was in Kiel zu Papier gebracht wurde, eigentlich etwas, was in der Tat nicht auch an anderen Orten unter Praktikabilitäts- und Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten genauso erfolgt ist? Richtig ist – und das ist mir jetzt ganz wichtig –, dass genau dieser Eindruck, der Rechtsstaat habe kapituliert, die Sicherheitslage sei nicht mehr gewährleistet, dass das nicht durch solch ein Schreiben dann tatsächlich auch noch verfestigt wird, sondern dass wir ganz deutlich dokumentieren, aus welcher Situation heraus ist dieses Schreiben entstanden, diese Vereinbarung? Und in welcher Praxisrelevanz hat es sich tatsächlich wieder gefunden.
    Zurheide: Ja, aber das Papier ist da und das Ganze fällt ja auf den Boden der Ereignisse in Köln, wo auch der Rechtsstaat oder die Polizei keinen besonders guten Eindruck gemacht hat, und damit drücke ich mich jetzt sehr zurückhaltend aus. Meine Frage war ja auch gerade: Können Sie verstehen, wenn Menschen so was hören und dann sagen, es ist furchtbar, der Eindruck, der dadurch entsteht?
    Studt: Noch mal an der Stelle: Ich kann die Menschen verstehen, die diesen Eindruck haben. Und deswegen habe ich versucht zu erklären, warum wir die Aufgabe haben, wir, die in Politik verantwortlich sind, die verantwortlich sind auch für den Bereich der inneren Sicherheit, uns erst mal hinter unsere Landespolizei, hinter unsere Polizeien von Bund und Ländern zu stellen, aber eben auch ganz deutlich machen, dass wir … worum es geht, um auch wirklich deutlich zu machen, dass dieses Gefühl, das entstanden ist, und diese Diskussion – die sind ja dann auch nicht nur in Schleswig-Holstein entstanden, sondern bundesweit –, um diese noch mal vorläufige Vereinbarung, dass wir das differenziert und sauber darstellen, um deutlich zu machen, dass eben gerade der Eindruck, der entstanden ist an der Stelle, ein falscher, ein überzogener ist, und dass die Bewertung und auch die politische und mediale Diskussion um dieses Papier, um diese – wie gesagt, noch mal – vorläufige Vereinbarung, dass diese völlig überzogen ist.
    Zurheide: Was muss denn passieren, damit so was gar nicht erst … dass es gar nicht erst dazu kommt? Ich habe es gerade schon mal angesprochen, Flüchtlinge müssten erfasst werden. Nicht müssten, müssen erfasst werden, Punkt. Warum Konjunktiv? Warum schafft die Bundesrepublik Deutschland so etwas nicht?
    "Ich halte die Entscheidung der Bundeskanzlerin in der Situation für richtig"
    Studt: Also, ich glaube, wir können uns alle noch an die Bilder erinnern. Noch mal, diese vielen, vielen, vielen Menschen, die zu uns ins Land gekommen sind, auf die von uns keiner vorbereitet war … Da kann man immer argumentieren, das hättet ihr wissen können, das hättet ihr wissen müssen, eure Behörden und Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundespolizei, Landespolizei, Landesamt für Ausländerangelegenheiten, die hätten richtig und personell aufgestellt sein müssen. Nein, das waren sie nicht, keiner von uns war auf diese Situation, auf diese Herausforderung vorbereitet, keine Institution war personell, organisatorisch so ausgestattet, dass wir das leisten konnten. Und trotzdem, noch mal gesagt an dieser Stelle: Ich halte die wirklich aus humanitären Gründen angestrebte oder durchgeführte Entscheidung der Bundeskanzlerin in der Situation für richtig. Deswegen ist ja genau der Punkt, den wir momentan haben, dass wir eine sehr intensive Diskussion einmal im politischen Raum haben um die richtige Gesetzgebung, um die richtige Reaktion darauf zum einen, aber natürlich auch die Praxis in den Ländern zu überprüfen. Deswegen sind wir in einem ständigen Dialog der Innenminister auf der einen Seite, der Integrationsminister auf der anderen Seite, um jetzt auch die richtigen Entscheidungen zu treffen, wie zum Beispiel gestern das Datenaustauschverbesserungsgesetz, was ja gerade die Grundlage dafür schafft, dass wir endlich Daten, die auf der einen Seite zum Beispiel von der Bundespolizei erhoben werden, für alle nutzbar machen können, dass es einen einheitlichen Flüchtlingsnachweis gibt, einen Auskunftsnachweis, in dem alle relevanten Daten erfasst sind. Das ist eine Reaktion genau auf das, was wir im September/Oktober erlebt haben. Und Sie haben absolut recht, natürlich muss es so sein, dass jeder erfasst ist, der hier ins Land kommt, dass jeder registriert ist, dass wir wissen, wo diese Menschen sich aufhalten, wo sie gegebenenfalls ihren Wohnsitz nehmen, welche besondere Situationen möglicherweise auch mit diesen Menschen verbunden sind. Das ist richtig, dass wir genau da jetzt hinkommen, und zwar mit aller Geschwindigkeit und aller Macht, und dafür hat eben auch dieses schnelle Gesetzgebungsverfahren beigetragen.
    Zurheide: Aber Herr Studt, wie lange wird es dauern? Ich höre dann von den Praktikern, die sagen, na ja, aber eigentlich sollte es ab 1. Februar, also übermorgen, so weit sein. Aber es wird nicht so weit sein, denn bis das alles läuft, sagt mir ein Innenminister, einer Ihrer Kollegen, das wird bis Herbst dauern. Kann man das Menschen noch vermitteln?
    Studt: Ich bin ganz bei Ihnen, wenn Sie sagen, man bekommt, wenn man das von draußen betrachtet, Zweifel, ob der Staat da wirklich leistungsfähig ist. Aber ich will es noch mal deutlich beschreiben: Wir reden über mittlerweile eine Million Menschen, die hier im Lande sind, wir reden darüber, dass wir eine gesetzliche Grundlage dafür brauchen, so ist das in einem Rechtsstaat noch einmal, die ist gestern geschaffen worden, der Herr Bundespräsident wird dieses Gesetz noch ausfertigen und dann wird es dann auch rechtskräftig sein und anwendbar sein an der Stelle. Und dann geht es in der Tat darum, diese Dinge jetzt schnellstmöglich zu realisieren. Das ist unsere Kernaufgabe, da sind wir vollkommen einverstanden und haben auch vollständiges Einvernehmen, alle Innenminister, mit Herrn de Maizière an der Stelle, dass das jetzt mit Macht und mit aller möglicher Geschwindigkeit und mit allem Nachdruck passieren muss. Ob das bis Ende September dauert, weiß ich nicht. Also, ich würde auch nie behaupten, das ginge im Februar. So hat sich mal der Bundesinnenminister eingelassen, aber ich glaube, er wollte auch nur das Ziel beschreiben. Wir müssen es – und da bin ich bei Ihnen und bei all denen, die das genauso sagen –, wir müssen es schnellstmöglich schaffen, dass alle, die hier ins Land gekommen sind, registriert, aufgenommen werden, in einer Datenbank erfasst, diese Daten abrufbar sind, nicht nur für die Polizeibehörden, auch für die Sozialbehörden, die Jugendämter. Das muss schnellstmöglich gelingen und das werden all wir, die wir als Länderkollegen dafür auch eine Verantwortung tragen, natürlich auch nachhaltig unterstützen.
    Zurheide: Stefan Studt war das, der Innenminister von Schleswig-Holstein, der uns geschildert hat: Zumindest versuchen wir es! Wir bedanken uns heute Morgen für das Gespräch. Auf Wiederhören!
    Studt: Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.