Selbstverteidigung für Frauen

"Ich möchte nicht mehr als Opfer dastehen"

05:13 Minuten
Eine Frau im weißen Taekwondo Anzug in Verteidigungsposition.
Kampfsport wie Taekwondo ist bei Frauen nach wie vor beliebt. Einer der ältesten Vereine in Europa ist der "Verein Selbstverteidigung für Frauen" in Berlin. © Getty/E+
Von Peter Kaiser · 15.11.2020
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Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist alltäglich. Seit 1976 können sie in einem Berliner Verein lernen, sich mit Taekwondo-Techniken gegen Angriffe zu wehren. Ein Besuch beim "SvF", einem der ältesten Selbstverteidigungsvereine für Frauen in Europa.
"Dann los, 20 Mal Hampelmann, Attacke. Gleichmäßig atmen."
"Ich habe schon von vielen Frauen gehört, denen da wirklich was passiert ist", erzählt Hannah.
"Ich stelle selber fest, und auch aus Erzählungen mit Freundinnen, dass das Aggressionspotential in der Stadt wirklich zugenommen hat", sagt Susina. "Dass man schnell dabei ist, jemanden zu beleidigen, oder den Fuckfinger zu zeigen, oder was auch immer. Das fällt schon auf. Und oft höre ich auch von Freundinnen, die dann die Polizei anrufen, und die gar nicht kommt."
Und Barbara meint: "Ich habe so den Eindruck, dass die Menschen frustrierter sind. Die Spannung wächst, man fühlt sich nicht mehr sicher."

Viele Frauen erfahren Gewalt

Nach Erhebungen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2013 hat jede zweite bis dritte Frau und Mädchen in Deutschland Gewalterfahrungen. Dabei stehen Prügel, Nötigungen, Vergewaltigungen, Bedrohungen, Demütigungen, Stalking, sexuelle Belästigungen, soziale Kontrolle und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit im Vordergrund. Meist sind die Täter Männer.
Der SVF Berlin: Der älteste Selbstverteidigungsverein für Frauen in Europa.
Beim SvF Berlin üben Mädchen und Frauen eine der härtesten Kampfsportarten der Welt: das koreanische WTF-Vollkontakt-Taekwondo. © Deutschlandradio/ Peter Kaiser
Mittwochnachmittag in Berlin-Schöneberg am Nollendorfplatz in der Sportschule Chae. Etwa 20 Mädchen und Frauen von 14 Jahren bis Ende 60 wärmen sich auf. Alle tragen Doboks, traditionelle weiße Taekwondo-Anzüge. Die meisten halten die Anzüge mit weißen Anfängergürteln vor dem Bauch zusammen, manche aber tragen schon den Dan, den schwarzen Meistergürtel.
"Alle nochmal Chuchum-Sogi-Stellung. Knie immer ein bisschen beugen, Körpergewicht in der Mitte halten, eine gerade Rechte, eine gerade Linke."

120 Frauen auf der Warteliste

1976 gründete sich der "Verein Selbstverteidigung für Frauen", kurz: SvF genannt. Damals begannen sich Feministinnen stärker mit der alltäglichen Gewalt gegen Mädchen und Frauen auseinanderzusetzen. Marina Salewski, die von allen nur Joy nur genannt wird, ist Trägerin des 4. Dan im Taekwondo. Seit Jahrzehnten unterrichtet die Großmeisterin im SvF. Sie kann sich noch heute erinnern, wie alles begann:
"Wir hatten damals in den 70er, 80er Jahren 120 Frauen auf der Warteliste, die konnten wir alle damals nicht trainieren, weil wir weder die Räumlichkeiten noch die Trainerinnen hatten. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Unser Verein ist halt so ein ruhender Pol für Frauen mit Gewalterfahrung."
Die "Chefin" des Vereins Marina Salewski steht vor einem Regal voller Sportutensilien.
Marina Salewski, die "Chefin" des Vereins, die alle nur "Joy" nennen.© Deutschlandradio/ Peter Kaiser
44 Jahre nach der Gründung gilt der SvF heute als einer der ältesten Selbstverteidigungsvereine Europas. Damals wie heute sind die Gründe gleich, warum Mädchen und Frauen eine der härtesten Kampfsportarten der Welt trainieren, das koreanische WTF-Vollkontakt-Taekwondo.
"Ich mache Taekwondo, weil ich mich wieder sicher fühlen und nicht mehr als Opfer dastehen möchte", sagt Barbara. "Das ist mir wichtig, dass ich einfach spazieren gehen kann, ohne Angst zu haben."
"Ich mache Taekwondo, weil ich die Kraft haben will mich zu wehren, wenn es drauf ankommt", sagt Tasmin.
"Ich bin eigentlich aus therapeutischen Maßnahmen dazu gekommen, um ein bisschen mehr in meine Energie zu kommen, und mit Aggressionen und was auch immer umzugehen", sagt Susina.

Lernen, einen Angriff abzuwehren

Darum trainieren die Frauen regelmäßig bestimmte Techniken, die oft vorkommenden Situationen entsprechen.
"Also Würgetechniken, wenn jemand auf einem draufsitzt. Bei Angriffen, wie kann ich reagieren, direkt und sofort. Ausweichen, angreifen. Es gibt hier einige Frauen, die die Erfahrung machen mussten, es gibt wenige Passanten, die den Mut haben zu sagen, halt, Stopp, ist eine Frau, oder ein Kind, lassen sie es in Ruhe. Da haben wir halt die Techniken wie den Fußballentritt Richtung Unterleib, da ist der Halbkreistritt, wo man einmal mit dem Spann stößt."
Das Training wirkt, sagen alle Frauen.
"Ich habe keine Probleme durch einen Park zu gehen", sagt Susina. "Manchmal denke ich, ich warte jetzt nur, dass man es irgendwann mal anwenden kann, es hat halt viel mit dem Selbstwert und dem Selbstbewusstsein zu tun, dass es gar nicht dazu kommt. Der Kopf nach oben, die aufrechte Haltung, ich glaube, das strahlt man wirklich aus, ich bin noch nicht mal blöd angequatscht worden, nichts."
"Ich habe es angefangen, weil ich mich generell sicherer fühlen wollte, und weil ich immer sehr spät von meinem Freund nach Hause komme, und dann immer im Dunklen laufen muss", erzählt Hannah. "Und generell, das Gefühl zu haben sich verteidigen zu können, finde ich sehr gut."
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