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Balance zwischen Pathos und Erdung

Der musikalische Output Islands umfasst weit mehr als Björk und Sigur Ros. Die Band Hjaltalin ist bekannt für ihre orchestrale Klangästhetik. Ihr neues Album "Enter 4" entstand zum Teil unter dem Eindruck einer Depressionsdiagnose des Sängers.

Von Florian Fricke | 02.09.2013
    "Einige der Lieder habe ich im weißen Krankenhauskittel geschrieben, am Klavier. Das waren magische Momente. Die Band hat mich dort besucht, und wir haben zusammen gearbeitet. Es war ein Triumphzug des Lebens."

    Während der Arbeit an Hjaltalins neuem Album "Enter 4" wird bei Sänger und Gitarrist Hogni Egilsson manische Depression diagnostiziert. Was zunächst wie ein Albtraum klingt, geriet für die Band zu einem zwar grenzwertigen, aber auch wundervollen Trip. Denn Egilsson empfindet die Krankheit weniger als Bedrohung, sondern als Bereicherung. Er drang in Welten vor, die nur wenige jemals sehen.

    "Ich versuchte ständig etwas anderes in mir zu finden, als die Dinge wie sonst wahrzunehmen. Ich wollte etwas erschaffen und suchte nach dem Schlüssel, der irgendwo hinter den üblichen Dingen verborgen lag: den Kern des Lebens, den Klang der Erde. Als Künstler begibst du dich manchmal auf eine abenteuerliche Reise, auf die Suche nach etwas Undefinierbarem – und dann dringst du vor in eine Zauberwelt."

    Hjaltalin haben sich 2004 eigens für einen Musikwettbewerb gegründet. Aus den studentischen Ambitionen wurde bald mehr. Die Band nahm immer mehr Mitglieder auf, die immer mehr Instrumente beherrschten. Durchgehend dabei als maßgeblicher Songschreiber war Hogni Egilsson. Zusammen mit dem Geiger Viktor Orri Árnason sitzt er nun auf dessen Balkon in Berlin Moabit, denn Árnason studiert an der Musikhochschule Hans Eisler Komposition. Ihr letztes Album "Terminal" spielten Hjaltalin mit einem großen Symphonieorchester ein. Für ihr neues Werk "Enter 4" schrumpfte die Besetzung wieder auf sieben Musiker.

    "Wir hatten keine Lust mehr auf diesen intellektuellen Irrsinn, diesen Größenwahn. Wir wollten das Gedankliche minimieren und uns mehr auf unsere Wurzeln besinnen, auf das Ursprüngliche."

    "Ja, es ist viel minimalistischer geworden. Wir wollten uns auch mehr auf eine Richtung einigen. Das Vorgängeralbum franste vielleicht etwas zu sehr aus."

    Auf "Enter 4" sparen Hjaltalin trotzdem nicht mit großen Gesten, im Gegenteil. Lustvoll spielen sie auf der Klaviatur existentieller Gefühlswallungen rauf und runter. Und diese nehmen einen noch mehr mit, wenn man um die bipolare Störung von Hogni Egilsson weiß, die dieses Album geprägt hat. Die Arrangements der Lieder sind wohltuend komplex, wirken aber nie überladen oder konstruiert. Große Oper sozusagen. Und natürlich spielt auch in der DNA Hjaltalins die Heimat Island wie bei vielen isländischen Künstlern eine große Rolle.

    "Im Grunde werden wir von der Natur regiert. Wir haben hier auf der Insel einen Konsens, dass es eine Geisterwelt gibt, das glaube ich jedenfalls. Aber vielleicht verlieren wir das mehr und mehr. Hunderte von Jahren gab es hier keine materiellen Güter, keinen Besitz. Es ging nur um unsere Erde. Und wir versuchen weiter, uns diese Spiritualität zu bewahren. Aber es wird immer härter, wenn ich hier so auf mein iPhone starre."

    Sie stimmen also, die Island-Klischees über die Elfen und Trolle, über die Entrücktheit von der aufgeklärten Welt. Aber anders als Sigur Ros, die irgendwann in ihrer eigenen Schönheit ertranken, schaffen es Hjaltalin, die Balance zu halten zwischen Pathos und Erdung, zwischen Wahn und Sinn. Und das macht "Enter 4" zu einem großen Album.

    "Klangliche Schönheit kann so oberflächlich sein. All das Licht und die Wärme, in der du versinkst, und deine Ohren glühen förmlich. Es ist wirklich schwer, nicht in dieser Schönheit zu ertrinken. Du brauchst einfach eine gute Rettungsweste. Und vielleicht solltest du die Schönheit wie eine Welle reiten, mit einem Wakeboard, anstatt in ihr zu schwimmen – dann geht's."