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Ballett "b.32" in Düsseldorf
Blasphemische Dreistigkeiten und gottverlorene Depression

Am Ende wusste Gioachino Rossini selbst nicht, ob seine Komposition "heilig" oder "vermaledeit" sei, und so nannte er sie spöttisch "Petite Messe solenelle". In Düsseldorf verwandelt Choreograf Martin Schläpfer die kleine heilige Messe in ein abendfüllendes Ballett.

Von Nicole Strecker | 03.06.2017
    Der Ballettdirektor der Deutschen Oper am Rhein, Martin Schläpfer.
    Martin Schläpfer ist Chefchoreograf des Balletts am Rhein in Düsseldorf. (picture alliance / dpa / Maja Hitij)
    Hamburg mag die Pilgerstätte der Ballett-Christen sein, die von John Neumeiers Choreografien jahrzehntelang regelmäßig religiöse Erbauung bekommen haben. Düsseldorf – so scheint es – entwickelt sich derzeit zur Anlaufstelle der Agnostiker, der Gottzweifler und Gottsucher. Zu Brahms Deutschem Requiem vertiefte sich der dortige Ballettchef Martin Schläpfer noch mit überwältigend empfindsamer Körperästhetik in Schmerz und Sehnsucht der Heilsverlorenen. Jetzt also Gioachino Rossinis "Petite Messe solenelle". Und die ist beim Schweizer Choreografen eines ganz bestimmt nicht: eine Messe.
    Figuren wie aus frühen Visconti-Filmen
    Tänzer in braunen Arbeits-Kitteln, Westen, Latzhosen treten auf. Ein Bäckerjunge pirouettiert mit einem Korb Weißbrotstangen. Carabinieri spagatspringen mit Gewehr über der Schulter. Man befindet sich offenbar in einem Dorf im Italien der 1940er-Jahre mit Figuren wie aus frühen Visconti-Filmen. Bühnenbildner Florian Etti hat die Tanzfläche mit schwarzen Torbögen umstellt, was an eine Piazza denken lässt, aber auch an Kirchengewölbe und Kreuzgänge – allerdings sind deren Säulen schon halb in den Boden versunken, gen Hölle. Und dem Teufel gefährlich nahe sind auch die Tänzer auf Schläpfers Bühne. Da treten Flagellanten auf, aber sie schlagen sich nicht mit Peitschen, sondern Parmaschinkenkeulen. Der Priester wird mit homoerotischen Avancen in Versuchung gebracht, dass ihm die Finger am Hosenbein kribbeln. Eine Händlerin mit Rosenkränzen sucht im Tanz mit ihrer Ware vergeblich die religiös-erotische Ekstase, und den brav aufmarschierenden Betenden schlottern und schlackern die Glieder.
    Gallige Abrechnung mit den Psychodynamiken des Glaubens
    Choreograf Martin Schläpfer und Dirigent Axel Kober haben sich für die Urfassung von Rossinis Komposition entschieden. Ein Mix aus zwei Klavieren und immer leicht quäkigem Harmonium, opernhaften Gesangspassagen und liturgischen Beschwörungsformeln. Die Musiker und Sänger nähern sich der kuriosen kleinen Messe zwar mit verblüffender Innigkeit und Zartheit. Trotzdem hat diese Musik natürlich nicht die emotionale Kraft eines Brahms, Bachs oder Schuberts, die Schläpfers intellektuell-analytische Choreografien doch dringend als Gegengewicht brauchen. Beim Rossini reagiert er auf eine schräge Komposition mit noch schrägeren Tanztheaterbildern. Frauen, die sich in Exorzismen verlieren. Körperkrampfiger Triebstau, demütig fußtrappelnde Volksfrömmigkeit. Eine ziemlich gallige Abrechnung mit den Psychodynamiken des Glaubens, unterbrochen von Augenblicken bedingungsloser Hingabe, wenn etwa Tänzer Marcos Menha in einem ergreifenden Solo seine langen Arme ausbreitet als öffne er den Himmel für die göttliche Erleuchtung.
    Wirklich packend ist es leider nicht
    Doch solche Momente sind rar, und so bleibt Schläpfers Rossini ein zwiespältiges Erlebnis: Vieles ist mit grandiosen Überraschungseffekten choreografiert, alles ist clever reflektiert – nur: wirklich packend ist die Abfolge szenischer Miniaturen aus blasphemischen Dreistigkeiten und gottverlorener Depression leider nicht.